Blick zurück in die Zukunft

Amerika ist traditionell das Feindbild der Europäer, besonders der Deutschen - glaubt zumindest Dan Diner. Warum das so sein muss, erklärt er in einem knappen und polemischen Essay von PAUL NOLTE

Während Gerhard Schröder und Joschka Fischer noch damit beschäftigt sind, die deutsch-amerikanischen Beziehungen auf diplomatischer Ebene wieder ins Lot zu bringen, ist eine neue Grundsatzdiskussion über den deutschen „Antiamerikanismus“ entbrannt. Die Generation der Rosinenbomber-Dankbarkeit ist längst abgetreten; die „Selbstverständlichkeit“ der transatlantischen special relationship passé - und das nicht erst aufgrund der Folgen des 11. September, sondern seit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Vereinigung.

Da kommt ein Buch gerade recht, das die Wurzeln des „Feindbildes Amerika“ in historischen Tiefenschichten bis in das 19. Jahrhundert freilegt, aber gleichzeitig dezidiert, durchaus polemisch zur Gegenwart Stellung nimmt. Sein Autor Dan Diner lehrt Neuere und Jüdische Geschichte zugleich in Leipzig und Jerusalem. Seinem intellektuellen Temperament nach bevorzugt er seit jeher nicht die dickleibige Spezialabhandlung, sondern den pointierten und politisch engagierten Essay. So auch diesmal. Allerdings ist die Neuheit dieses Buches ein bisschen geschwindelt, denn eine frühere Fassung erschien bereits 1993 mit dem Titel „Verkehrte Welten: Antiamerikanismus in Deutschland“ - als Kommentar zu deutschen Befindlichkeiten im Golfkrieg. Für die Neuausgabe unter dem griffigeren Titel hat Diner ein längeres Kapitel hinzugefügt, das amerikakritische Reaktionen auf die Anschläge vom 11. September unter die Lupe nimmt und kluge Überlegungen über Konstanten und Wandlungen der amerikanischen Identität anschließt.

Diners kleines Buch ist chronologisch angelegt und beginnt im frühen 19. Jahrhundert, als „Amerika“ in der europäischen Wahrnehmung zur Negation der eigenen Identität definiert wurde. Deshalb ist es uns nicht einfach „fremd“ wie Asien oder Afrika, sondern „anders“: Amerika zu sehen ist wie der gefahrvolle Blick in einen Spiegel der Zukunft. Dieses Grundmuster verfestigte sich besonders in der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende, als die Vereinigten Staaten zum Sinnbild einer unaufhaltsamen, einer entfesselt dynamische Moderne wurden - in der Kultur ebenso wie in der Ökonomie. In der Weimarer Republik wirkte die amerikanische Moderne auf viele sehr attraktiv, und die Faszination Amerikas strahlte auch im Dritten Reich noch lange weiter: So radikal antiamerikanisch, wie man lange meinte, waren die Nazis nicht, denn sie glaubten an eine technizistisch-ökonomische Modernität, die sie mit der rassistischen Volksgemeinschaft zu amalgamieren hofften.

In der Zeit nach 1945 wiederum erkennt Diner ein größere Kontinuität der Amerikaskepsis, als man gemeinhin bei dem Blick auf die politische Allianz der Bundesrepublik mit den USA unterstellt. Auch schon vor 1968 und dem Vietnamkrieg mochten sich viele Intellektuelle, übrigens im rechten wie im linken Lager gleichermaßen, mit der amerikanischen Kultur nicht recht anfreunden. Für eine ausgewogene Darstellung hätte Diner freilich auch die dezidierte Hinwendung der geistig-kulturellen Elite Westdeutschlands zu Amerika und ihren Abschied von einer Weltsicht des „deutschen Sonderwegs“ berücksichtigen müssen. Unberücksichtigt bleibt auch die Frage, ob der deutsche Antiamerikanismus tatsächlich so deutlich und ausschließlich ein Phänomen der „gebildeten Schichten“ ist, wie Diner unterstellt. Da Intellektuelle so gerne über ihresgleichen schreiben, wissen wir über den populären Antiamerikanismus noch vergleichsweise wenig.

Das Fazit und die Kernthese von Dan Diners Tour dHorizon lautet: Das “Feindbild Amerika“, das antiamerikanische Ressentiment beruht auf Ängsten vor der Moderne, welche die USA repräsentieren, auf einem Erschrecken der „Traditionsgesellschaften“ vor einer Gesellschaftsordung, die immer ihre eigene Zukunft zu sein drohte. Das ist nicht falsch, und doch müsste man darüber ausführlich streiten. Kann man Deutschland, das um 1900 mit den USA um den Rang der technisch-kulturell modernsten, dynamischsten Nation wetteiferte, oder ganz Europa mit arabischen Staaten als „Traditionsgesellschaften“ in einen Topf werfen? Und vor allem: Steckt hinter Diners Diagnose nicht ein eindimensionales, ein gar zu lineares Bild „der“ Moderne, die einzig von Amerika repräsentiert werde und andere Kulturen zum Hinterherlaufen auf demselben Pfad verdamme? In den Sozialwissenschaften spricht man neuerdings gerne von „multiple modernities“: Die Moderne existiert nicht mehr nur im Singular, sondern fächert sich in unterschiedliche Entwicklungspfade und Erscheinungsformen auf. Das gilt möglicherweise nicht nur für Unterschiede zwischen postkolonialen Gesellschaften und dem Westen, sondern auch für eine Pluralisierung westlicher Gesellschaftsentwürfe selber, diesseits und jenseits des Atlantiks. Historiker haben vor einiger Zeit begonnen, zwischen der „Amerikanisierung“ Deutschlands im 20. Jahrhundert und seiner „Westernisierung“ zu unterscheiden: Nicht jede Verwestlichung bedeutet eine zunehmende Annäherung an Amerika. Dagegen steht jedoch ganz zweifellos der fortdauernde Vereinheitlichungssog in der populären Massenkultur ebenso wie in der wirtschaftlichen „Globalisierung“. Wir werden in Zukunft kompliziertere Modelle von Moderne(n) und Gegenmoderne(n) brauchen, um Annäherung und Distanz im europäisch-amerikanischen Verhältnis verstehen zu können.

Am Schluss seines Buches charakterisiert Diner die gewandelte Identität Amerikas seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts und, noch eher tastend, seit dem 11. September letzten Jahres: die Prinzipien von Pluralismus und Toleranz und jenen „Multikulturalismus“, der von Europa aus immer noch so häufig missverstanden wird; aber auch die neuen Tendenzen zur „Territorialisierung“ eines Landes, das bis vor einem Jahr die grenzenlose Republik sein wollte. Vielleicht müsste man, dieser Eindruck drängt sich bei der Lektüre auf, in nächster Zeit weniger über den europäischen und deutschen Antiamerikanismus schreiben und wieder mehr über Amerika selbst. Denn die Reflexion eigener Wahrnehmungen und Ängste wird leicht zur europäischen Nabelschau, während sich zugleich ein enormes Defizit des zuverlässigen Wissens über die Vereinigten Staaten aufgebaut hat.

Dan Diner: „Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments“. Propyläen Verlag, Berlin/München 2002. 236 Seiten, 20 EUR