Die Prinzessin aller Erbsen

Erziehung zur Empfindsamkeit: Nach ihrem viel gelobtem Debüt „Melancholia“ schreibt Bettina Galvagni auch in ihrem zweiten Roman „Persona“ von Menschen, die für den Schmerz geboren sind

von SEBASTIAN DOMSCH

Mitleid ist eine göttliche Tugend, und Lori, die Protagonistin von Bettina Galvagnis zweitem Buch, ist als Romanfigur ganz auf unser Mitleid angewiesen. Denn außer ihrer schier unbegrenzten Fähigkeit, sich ständig schlecht zu fühlen, hat sie kaum etwas Erzählenswertes vorzuweisen in ihrem jungen Leben.

Kein Wunder also, dass sich „Persona“ ganz ähnlich wie „Melancholia“, Galvagnis viel gelobtes Debütbuch, wieder über große Strecken in Krankenhäusern, psychiatrischen Anstalten und Therapiezimmern abspielt. Doch Lori verwandelt allzu konsequent jeglichen Versuch ihrer Umwelt, zu helfen und es gut mit ihr zu meinen, in eine Quelle neuen Ungemachs. Während ihre Seelenklempnerin noch um sie kämpft, hat der Leser sie längst aufgegeben, göttliche Tugend hin oder her.

Zuvor jedoch wird er erst einmal aufatmen, wenn er sich noch an die Materialschlacht des dichterischen Sprachgebrauchs erinnert, die Galvagni in ihrem ersten Buch inszeniert hat. Die mehrfach ausgezeichnete und mit Stipendien versorgte Autorin hat sich mittlerweile weitgehend diszipliniert. Sie ist vor allem im Umgang mit Metaphern deutlich bescheidener geworden, und so sind tatsächlich die ärgsten Stilblüten und widersinnigsten Vergleiche weggefallen, wenn auch noch immer ein Tag „wie ein Bonbon“ ausgewickelt wird und sich jemand „wie ein erschöpftes Insekt“ hinsetzt.

Es kann beim Lesen von „Persona“ allerdings durchaus passieren, dass einem überraschende und schöne Wendungen auffallen, wenn sie zum Beispiel schreibt: „Ein anbrechender Morgen in einer großen Stadt konnte größer sein als das Leben selbst.“ Das sind allerdings die wenigen sprachlichen Sahneschnittchen in einem ansonsten recht trockenen Schwarzbrotsortiment. Die Dialoge wirken oft hölzern und prätentiös – oder muss man sich das Gespräch zweier verliebter Jugendlicher tatsächlich so vorstellen: „Ich fühle mich einsam.“ – „Auch ich bin oft tagelang allein. Dann habe ich Angst und denke, daß ich verrückt werden könnte. Und wenn ich bestimmte Bücher lese, habe ich noch mehr Angst …“ – „Weil die Bücher dich noch mehr von der Wirklichkeit entfernen.“

So manche Äußerung, die im Gewand tief schürfender philosophischer Betrachtungen daherkommt, entpuppt sich als Banalität. „Ist es nicht überall dasselbe?“, fragte Lori ihren Lehrer, und im selben Moment wird ihr klar, „daß es nirgends dasselbe war, daß kein Platz je wirklich einem anderen gleichen würde.“ Wenn das keine gedankliche Tiefe ist!

Die Figuren in Galvagnis Roman entziehen sich dem Blick des Lesers, sie handeln oft unmotiviert bis hermetisch. Vor allem die Therapeutin Eliza und die Französischlehrerin Elvira wirken bisweilen fast wie erwachsene Doppelgängerinnen der Neurotikerin Lori. Dieser Eindruck wird noch durch Loris Wunsch verstärkt, so zu werden wie die beiden Personen, denen sie eine gänzlich unkritische Verehrung entgegenbringt.

Viel weniger klar ist ihre Einstellung ihren beiden bisherigen Liebschaften gegenüber. Da ist zum einen der Lehrer, der von Lori „Ulysses“ genannt wird, und außerdem Alexander, der Bruder ihrer Freundin Anna. Zwar wird eine Reise mit Ulysses nach Israel ausführlich beschrieben und auch ein paar Begegnungen mit Alexander, doch Loris Gefühle sowohl für ihren älteren als auch für den gleichaltrigen Liebhaber bleiben im Dunkeln – ungewöhnlich für einen Selbstoffenbarungstext wie diesen, genauso wie die schamhafte Zurückhaltung: Dass Sex ausschließlich hinter dicht geschlossenem Vorhang stattfindet, lässt Zweifel an der therapeutischen Schonungslosigkeit aufkommen, durch die sich Galvagnis Psychoanalyseprosa auszeichnen möchte. Ein bisschen mehr Offenheit hätte den Text konsequenter und sicher nicht uninteressanter gemacht.

Allerdings ist das Fehlen dieser und anderer zwischenmenschlicher Aspekte konsequent in einer anderen Hinsicht – denn in erster Linie ist Loris Leben geprägt durch ihre so zahlreichen wie regelmäßigen Krankheiten und Psychosen, ihr Fokus geht stets nach innen und nimmt das Gegenüber lediglich im Bezug zu sich selbst wahr. Der Titel des Romans zeigt nur scheinbar den Wechsel von der absoluten Ich-Position ihres Debüttextes „Melancholia“ zur dritten Person an, der der neue Roman formal verpflichtet ist.

In Wirklichkeit ist das ein grammatischer Taschenspielertrick. Noch immer existiert die Welt nur für, durch und gegen das absolute Ich, auch wenn es jetzt Lori heißt. Es herrscht der unbedingte Wille zur perspektivischen Egozentrik, der, wie die junge Schriftstellerin Juli Zeh kürzlich in einem Essay für die Literaturzeitschrift Akzente schrieb, immerhin „zwei Drittel der Gegenwartsliteratur auf dem Gewissen hat“. Und da das Ich sich nie seiner selbst bewusster ist als im Leiden, lebt Lori ihren eigenen Schmerz mit beachtlicher Hartnäckigkeit. Schon die Tatsache, dass ihre Mutter einmal zu müde ist, um mit ihr ins Theater zu gehen, lässt sie erkennen, „dass sie wohl für den Schmerz geboren sei“. Dieser Prinzessin aller Erbsen scheint es nur gut zu gehen, wenn es ihr schlecht geht.

Doch was in „Melancholia“ noch die logische, wenn auch ermüdende Folge des Formats „Schreibtherapie trifft Poesiealbum“ war, wird in seiner ganzen Unverhältnismäßigkeit deutlich, wenn „Persona“ ganz nebenbei von echtem Leid im Umfeld der Protagonistin erzählt. Von jahrelangen Depressionen der Mutter, die sie schließlich in den Selbstmord trieben, und vom jahrelangen sexuellen Missbrauch der bewunderten Freundin Anna durch deren eigenen Vater, der ihr schließlich auch keinen anderen Ausweg ließ als den eigenen Tod.

Solche wirklichen Tragödien scheinen nur am Rande auf, und schon wenige Seiten später darf Lori dann wieder jammern, dass sie schon die allzu lange Betrachtung der Fenster einer Häuserreihe krank mache. Da hält sich das Mitleid des Lesers denn doch in Grenzen.

Bettina Galvagni: „Persona“. Luchterhand Verlag, München 2002. 192 S., 18,50 €