Karten für das Paradies

Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld: In seinem Roman „Eine Reise zu den Sternen“ erkundet Nicholas Christopher den Himmel über dem amerikanischen Kontinent

von KOLJA MENSING

Als Siobhan Cowton vor einigen Wochen an einem Sommermorgen das Haus ihrer Eltern in der nordenglischen Stadt Northallerton verließ, fiel ihr ein kleiner Stein auf den Fuß. Sie hob ihn auf. Der Stein war warm und schimmerte rostfarben, die poröse Oberfläche glich erstarrter vulkanischer Lava. Ein Wissenschaftler, den die Daily Mail umgehend gründlich befragte, äußerte aufgrund dieser Beschreibung die Vermutung, dass es sich bei dem Stein um einen Meteoriten handeln könne. Sie habe das eine oder andere Mal eine Sternschnuppe beobachten können, erklärte die vierzehnjährige Siobhan gegenüber Reportern: Noch nie sei ihr allerdings ein Meteorit auf den Fuß gefallen.

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Es ist der 16. Dezember 1965, Lorens zehnter Geburtstag. Alma hat ihn in das alte Planetarium im äußersten Norden von Manhattan mitgenommen: „Funkelnde Sternhaufen, Ringe und Mondsicheln umschwirrten uns. Wir folgten der langen Kurve der Milchstraße, an Alpha Centauri vorbei, dem ersten Stern jenseits der Sonne, und beobachteten, wie eine Supernova explodierte und ein Neutronenstern zu einem schwarzen Loch kollabierte. Wir reisten weiter zum roten Stern Antares, zweihundert Lichtjahre entfernt, sahen uns ausgiebig auf der nächstgelegenen Andromeda-Galaxie um und nahmen anschließend Kurs zurück zur Erde.“

In der Menschenmenge, die nach der Vorstellung aus dem Planetarium hinaus auf die Straße drängt, verliert Loren Alma aus den Augen. Eine fremde Frau zerrt ihn zu einer Limousine. Loren wird entführt: „Eine Reise zu den Sternen“ heißt der Roman, in dem der amerikanische Schriftsteller Nicholas Christopher seine beiden Protagonisten Loren und Alma gleich zu Beginn wie zwei Satelliten auf unterschiedliche Umlaufbahnen schießt.

Loren wird in ein anderes Leben entführt: Das Waisenkind, das seine Eltern nie kennen gelernt hat und bei seiner Adoptivtante Alma aufwachsen sollte, findet sich nach einem Flug quer über den amerikanischen Kontinent in einem wundersamen Hotel in der Wüste bei Las Vegas wieder. Sein Entführer stellt sich als sein leiblicher Großonkel Junius Samax vor und eröffnet seinem Neffen, dass er eigentlich Enzo und nicht Loren heiße: „Es gibt eine ganze Menge, was ich dir bieten kann“, verspricht Samax, ein exzentrischer Millionär, der in der Wüste ein Leben als Privatgelehrter führt.

Loren wird zu Enzo. Er schreibt Alma einen Brief und tröstet sich selbst damit, dass er ihr, die kaum ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten kann, im Grunde genommen einen Gefallen tut. Doch der Brief wird sie nie erreichen. Während Enzo eine behütete Kindheit und Jugend verbringt und unter der Obhut seines Onkels alte Sprachen lernt und Grundkentnisse der Astronomie, Geologie und Botanik erwirbt, stürzt Alma sich in ein rastloses Leben. Sie zieht von einem Ort zum anderen, um den Kummer über ihren Verlust zu vergessen, und meldet sich schließlich als Krankenschwester für den Einsatz im Vietnamkrieg.

Von Seite zu Seite verdichtet sich das Bild. „Eine Reise zu den Sternen“ lässt das Amerika der Sechziger- und Siebzigerjahre wie eine Projektion in der Kuppel eines Planetariums vorüberziehen. Auf den Start der Weltraumsonde Pioneer 6, die von der Nasa an dem Tag, an dem Loren bzw. Enzo entführt wird, ins All geschickt wird, folgen die zielgerichteten Einsätze der B-52 in Vietnam, deren Brandbomben wie Sternschnuppen vom Himmel fallen. Die lucky stars in den Casinos von Las Vegas spiegeln sich am südlichen Himmel über den Luftwaffenstützpunkten in Guam und Saigon, während Alma eine Schallplatte mit John Coltranes „Interstellar Space“ hört. Das star-spangled banner hat seinen Platz mittlerweile auch auf dem Mond gefunden, und die Bombensplitter, die sich auf den Röntgenbildern der Marines zu den Lichtpunkten der Andromeda-Galaxie formen, werden gegen silver stars ausgetauscht, die Tapferkeitsmedaillen der US-Armee.

Man sagt, es „steht in den Sternen“, wenn man über die Zukunft spricht. Doch das Amerika, von dem Nicholas Christopher erzählt, sucht am Firmament nicht nach seiner Zukunft, sondern nach seinen Ursprüngen. Irgendwo dort oben am Himmel, aus dem das Land im Jahre 1492 den Europäern wie ein Meteorit vor die Füße fiel, vermutet es das verlorene Paradies.

So treffen sich in Samax’ Hotel, in einer Wüste inmitten der neuen Welt, Menschen, „die sich entweder selbst abhanden gekommen sind oder nach etwas suchen, das sie verloren haben“. Der verschrobene Wissenschaftler Hadar analysiert in einem Kellerlabor mit Spektografen und Mikroskopen Meteorite, in denen er die Überreste des Planeten vermutet, der einst zwischen Mars und Jupiter die Sonne umkreiste. Dr. Deneb, der immer einen weißen Anzug trägt, forscht in alten Folianten nach Berichten über Atlantis und beschäftigt sich mit der Theorie, dass der zweite Mond, den die Erde einmal besaß, eines Tages ins Meer stürzte und dabei den sagenumwobenen Kontinent zerstörte. Und Samax, der mit Freuden diese und eine Menge andere verschrobene Forschungsprojekte finanziert, jagt sein ganzes Leben lang einem geheimnisvollem Amulett aus der Zeit der Pharaonen hinterher, auf dem die Rückseite des Mondes abgebildet sein soll.

Enzo, das Waisenkind, fühlt sich wohl in dieser Runde der Verlorenen und macht sich schließlich ebenfalls auf die Suche: nach seinem Vater. Unterdessen lässt Alma sich in einem langen Rausch aus Alkohol, Drogen und Verzweiflung von einer pazifischen Insel zur nächsten treiben. Auch sie bewegt sich innerhalb einer Gemeinschaft von Menschen, die sich selbst verloren haben und nun unter dem Kreuz des Südens nach einem verlorenen Paradies suchen – so wie Stella, die Alma auf Hawaii trifft. Sie schwärmt von den Kauai und von den natürlichen Heilkräften des Klimas, vom Regenwald und „den mystischen Eigenschaften, die schon die alten Polynesier seiner Natur zugeschrieben haben.“

Stella, das lateinische Wort für „Stern“, ist nicht nur der Name von Enzos verstorbener Mutter, er gehört auch in den Titel der Jazzballade „Stella by Starlight“, die Enzo an dem Abend des 12. Oktober 1971 hört, an dem Amerika wie in jedem Jahr den Columbus Day begeht und Enzo „ein ganz andere Art von Entdeckung“ macht: Er verliert seine Unschuld.

So schließt sich dieser Bogen. Und zuletzt, nach mehr als sechshundert Seiten, findet dann auch die langgezogene und wie von Kepler höchstpersönlich berechnete Ellipse, die sich durch den gesamten und bis zum Schluss spannenden Roman zieht, zu ihrem Anfangspunkt zurück: Auf den Tag genau fünfzehn Jahre nachdem Enzo bei seinem verhängnisvollen Besuch in dem Planetarium einen Ausflug in den Sternenhimmel unternommen hatte, wird er im Kontrollraum des Nasa Observatory in Waimea Zeuge einer wirklichen Expedition in den Weltraum – unter dem Namen „Eine Reise zu den Sternen“.

So fügt sich eins zum anderen: Nicholas Christopher hat einen beängstigend perfekten Roman geschrieben, in dem selbst die in den Text eingestreuten fantastischen Elemente wie die übersinnlichen Fähigkeiten Almas so zwangsläufig erscheinen wie die Bewegungen der Gestirne am Himmel. „Eine Reise zu den Sternen“ ist ein von der ersten bis zur letzten Seite durchgeplantes Buch, in dem kein Ereignis für sich steht, sondern seinen Platz in lückenlosen Motivreihen und endlosen Assoziationsketten, dichten Metaphern und treffsicheren Bildern findet.

Christophers Roman könnte einem fast zu technisch vorkommen, wenn diese aufwändige literarische Konstruktion nicht durch eine schöne und in die Tiefe gehende Analogie zusammenhalten würden. Die Sterne und Planeten haben „im dreidimensionalen Raum überhaupt keine Verbindung untereinander“, sagt Estes, ein Astronom, den Alma kennen lernt. Erst die menschliche Fantasie füge sie zu Sternbildern zusammen.

Man muss nicht darauf warten, dass Estes die poetische Kraft der alten Seefahrer beschreibt, die in den Lichtern am nächtlichen Himmel zunächst Tiere und religiöse Symbolen und später dann die Umrisse nautischer Instrumente erkennen wollten. Auch so erkennt man die Ähnlichkeit der Sternbilder mit jenen anderen leuchtenden Fantasiegestalten, die ihre Form ebenfalls erst auf einer ebenen Fläche finden: Es sind Romanfiguren, die sich auf den Seiten eines Buches aus glitzernden Einfällen und funkelnden Gedanken zusammensetzen.

Der Rest ist Dunkelheit, und erst damit ist man beim eigentlichen Thema des Buches. Zwischen den der Fantasie entsprungenen Linien, aus denen die Sternbilder und Romanfiguren hervorgehen, wartet im Weltraum wie im Roman die ewige Nacht, der interstellar space, das Nichts.

„Es würde eine große Leere in meinem Leben ausfüllen“, bittet Samax am Anfang seinen Neffen, zu ihm in das Hotel zu ziehen. Die Sehnsucht, die in diesem Satz mitschwingt, ließe sich in den anderen amerikanischen Romanen, die wir in Deutschland in der letzten Zeit wieder mit so großer Begeisterung lesen, wiederentdecken.

In Jonathan Franzens Familienroman „Die Korrekturen“ hat das Nichts sich in den Köpfen der saturierten Mittelschicht breitgemacht und in David Foster Wallace’ „Kurzen Interviews mit fiesen Männern“ laufen selbst die Neurosen bereits in Leere. Die flüchtigen Nachrichtenbilder in Richard Powers’ „Schattenflucht“ hinterlassen ein Vakuum auf den Fernsehschirmen, und das so genannte Leck, das in Jonathan Lethems Wissenschaftssatire „Als sie über den Tisch kletterte“ in einem physikalischen Labor entsteht, verwandelt Alltagsgegenstände in Antimaterie und lässt sie im Nichts verschwinden.

Nun ist das Nichts keine amerikanische Erfindung. Warum lesen wir diese Bücher mit einer Begeisterung, die wir für Bücher, die in unserem Land geschrieben werden, nur selten aufbringen können? Nicholas Christopher ist mit seinen 51 Jahren etwas älter als seine zurzeit so erfolgreichen Kollegen, und trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen ist sein Roman weniger Teil dieser Frage – als Teil der Antwort: „Eine Reise zu den Sternen“ ist ein Buch, in dem es um nichs anderes geht als um die Gabe, angesichts des Nichts nicht zu erstarren, sondern Geschichten zu erzählen.

Es ist offenbar eine amerikanische Gabe, aber sie war es sicherlich nicht immer. Es war Scheherazade, die sich einst in jeder sternenbeschienenen persischen Nacht ein neues Märchen ausdachte. Wie alles in diesem Roman ist es kein Zufall, dass Enzo in den ersten Jahren im Hotel seines Onkels jeden Abend vor dem Schlafengehen ein Kapitel aus „Tausendundeine Nacht“ liest.

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Nachdem Zweifel an der Echtheit ihres Fundes laut wurden, hat die Familie von Siobhan Cowton beschlossen, den Meteoriten von Experten der Universität Durham untersuchen zu lassen. Das Ergebnis steht noch aus. Möglicherweise stellt sich heraus, dass der Stein nicht aus dem Weltraum, sondern aus dem Andenkenladen am Fuße irgendeines Vulkans stammt. Aus der Zeitungsmeldung vom Meteoriten, der in Northallerton, England, vom Himmel fiel, wäre dann eine Geschichte geworden: Die Geschichte eines Mädchens, dem seine Welt so langweilig geworden war, dass es an einem Sommermorgen einfach eine neue erfand.

Nicholas Christopher: „Eine Reise zu den Sternen“. Aus dem Englischen von Roberto de Hollanda und Pociao. Klett-Cotta, Stuttgart 2002. 661 S., 24,90 €