Der Einstieg in den Ausstieg

Die Grünen setzen bei der Wehrpflicht auf eine Methode, die ihnen schon bei der Atomkraft Erfolg bescherte. Doch diesmal will die SPD nicht mitziehen

aus Berlin PATRIK SCHWARZ

Was haben sie nun eigentlich beschlossen? So weit hatten die roten und grünen Koalitionäre den Zeitplan bei ihren Verhandlungen im Willy-Brandt-Haus noch nie überzogen. Alleine eine knappe Stunde dauerte eine abrupt angesetzte Verhandlungspause, in der die versammelten Grünen unter Joschka Fischer und den Parteichefs Fritz Kuhn und Claudia Roth sich berieten. Zur Überraschung der SPD-Seite hatten sie ihre alte Forderung nach einem Ende der Wehrpflicht vom Randaspekt zum Knackpunkt befördert.

Mit fast zwei Stunden Verspätung brachten schließlich Fischer und Kanzler Gerhard Schröder ihre Pressekonferenz über die Bühne. Doch selbst zu diesem Zeitpunkt kannten nicht mal die beteiligten Unterhändler die Formulierung der getroffenen Vereinbarung: „Die gibt’s noch nicht, weil die jetzt noch zurechtgefrickelt werden muss.“

Wie am Montagabend in der Koalitionsrunde wird es mit der Wehrpflicht in den kommenden vier Jahren im Kabinett gehen – sie wird für viel Wirbel sorgen, ohne dass so recht klar ist, was am Ende herauskommt. Beschlossen haben die Koalitionäre schließlich nur, die Pflicht zum Dienst zu „überprüfen“. Dabei haben die Grünen aus ihrer Sicht einen epochalen Erfolg erzielt: 45 Jahre nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 1957 stimmen die Sozialdemokraten erstmals zu, das Prinzip zu überdenken. Auch einen konkreten Zeitrahmen konnte der kleine dem großen Koalitionspartner abringen: „Noch in dieser Legislaturperiode“ muss die Untersuchung erfolgen. Grünen-Chefin Roth sieht damit das Ende eines „Dogmas“ gekommen, schließlich gehörte die SPD genauso wie die CDU jahrzehntelang zu den Verteidigern der Bundeswehr in ihrer bestehenden Form. Und die Ahnengalerie sozialdemokratischer Verteidigungsminister beginnt immerhin mit Helmut Schmidt.

Entsprechend hartnäckig, so berichten Teilnehmer der Verhandlungen im Brandt-Haus, habe Verteidigungsminister Peter Struck sich gegen den grünen Vorstoß gesträubt. Gab der Sozialdemokrat seine Zustimmung also nur zähneknirschend? „Das habe ich nicht gehört und gesehen“, meinte noch am Abend ein grinsender Winfried Nachtwei, der als grüner Verteidigungsexperte mit am Tisch saß. Zähneknirschend oder nicht – schon am nächsten Morgen griff Struck jedenfalls zum Telefonhörer und sprach mit Oberst Bernhard Gertz. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, mit Strucks Vorgänger Scharping in eine heftige Fehde verwickelt, gab sich anschließend beruhigt: Der Passus zur „Überprüfung“ der Wehrpflicht sei doch nur zur „Gesichtswahrung der Grünen“ in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen worden. Vom epochalen Ende eines Dogmas hat Peter Struck offenbar nichts mitbekommen. Die Grundzüge des Konflikts stehen damit fest – vier Jahre lang kann es nun hin- und hergehen. Die Koalition lässt sich Zeit bis 2006, die Armee und ihre gesetzliche Verankerung zu durchleuchten. Damit bleiben die Konsequenzen zunächst offen – und könnten ohnehin erst von der kommenden Regierung in Angriff genommen werden. Veränderungen anzukündigen, ohne sie in den nächsten vier Jahre umsetzen zu wollen, schafft aber vor allem eines – Unruhe.

Schon hat zwischen Rot und Grün das Gerangel um die Interpretation des Beschlusses vom Montag eingesetzt. Folgt jetzt für die Wehrpflicht, was Rot-Grün bei der Atomkraft unternommen hat: der Einstieg in den Ausstieg? Die Grünen setzen genau darauf ihre Hoffnung. Umgekehrt können die Anhänger der Wehrpflicht argumentieren, das Ergebnis der geplanten Überprüfung sei schließlich offen. Sie können auf die Scharping-Reform aus dem Jahr 2000 verweisen, deren Umsetzung noch mitten im Gange ist. Sie können wie Oberst Gertz vor einer „sich selbst überholenden Reform“ warnen, wenn Rot-Grün auf einen Scharping-Plan einen Struck-Plan satteln würde.

Die Grünen sehen diese Einwände gelassen. Sie haben den Sozialdemokraten ein weiteres Zugeständnis abgetrotzt. Die Überprüfung ist an eine klare Leitlinie geknüpft: die Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission. Dieselbe Regierung, die jetzt auf Ideensuche für eine Bundeswehr der Zukunft ist, hatte schließlich vor zwei Jahren von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker ein ganzes Ideenbündel auf den Tisch gepackt bekommen. Der damalige Minister Scharping ließ es mit Segen von Schröder und Fischer in der Schublade verschwinden – zu radikal, zu teuer und zu gefährlich für die Wehrpflicht, lautete damals der Befund. Dabei befürwortete nur eine Minderheit der Kommissionsmitglieder eine Abschaffung der Wehrpflicht. Die Grünen setzen jetzt vor allem auf eine Zielmarke aus Weizsäckers Bericht: Statt wie bisher knapp 100.000 Wehrpflichtige soll es künftig nur noch 30.000 geben.Es ist ein Vorschlag mit Hintergedanke. Wenn nur noch ein paar tausend Männer jedes Geburtsjahrgangs zum Bund müssen, würde dadurch das Prinzip der Wehrgerechtigkeit verletzt. „Dann muss Karlsruhe entscheiden“, prophezeite ein grüner Unterhändler gestern. Das Verfassungsgericht müsste demnach befinden, ob ein derartiges Roulette überhaupt mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Aus grüner Sicht wäre dann die Bundeswehrreform beim einzigen Gremium angelangt, das die Wehrpflicht ohne Parlamentsmehrheit kippen kann.