In Rathenow ist Randale

Der 7. Oktober war Nationalfeiertag der DDR. Aus diesem Anlass hat der Potsdamer Historiker Thomas Lindenberger eine Jugendrevolte aus den 60er-Jahren erforscht

Jugendliche waren für den SED-Staat potenzielle Feinde, mögliche Rowdys eben

Wer weiß noch, wann der Nationalfeiertag der DDR war? Aus dem Westen niemand, aus dem Osten werden viele auch überlegen müssen: Der 1. Mai, der 8. März, der 17. Oktober? Es war der 7. Oktober, der einst mit großen Paraden begangen wurde. Jetzt steht gerade mal noch ein historischer Vortrag auf dem Programm der einstigen Hauptstadt der DDR: „Der Sportpalastkrawall in Rathenow, Rowdys, Volkspolizei und Jugendpolitik in der DDR-Provinz der 60er-Jahre“.

Im Haus der Demokratie und Menschenrechte bei 20 Zuschauern herrscht eine recht familiäre Atmosphäre. Ob ich aus der DDR bin, will eine Dame von mir wissen, und ob ich die 60er-Jahre dort erlebt hätte. Als die Veranstaltung beginnt, zieht sie ihre Schuhe aus und legt ihre bestrumpften Füße auf meinen Nachbarstuhl.

Eine andere Dame macht die Einleitung: Das Programm sei ein Potpourri, Literatur und Staatssicherheit hätten sie schon thematisiert, heute trage also Dr. Thomas Lindenberger vom Potsdamer Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschungen über den Sportpalastkrawall in Rathenow vor. Wie er von seinem Fachgebiet, der Volkspolizei, zur Jugend gekommen sei, werde er vielleicht selber sagen.

Lindenberger, mit ungebändigtem, wenn auch dünner werdendem Haar, will sich mit seiner Abhandlung auf eine Erklärung, warum die DDR gescheitert sei, beschränken. Der Wechsel von hartem Kurs und weicher Welle, von Repression und Toleranz in der Jugendpolitik der 60er-Jahre, dafür seien die Ereignisse vom Sommer 1964 in der Rathenower HO-Gaststätte „Sportpalast“ typisch. In der Tanzkneipe kam es damals zu einem Streit zwischen einem NVA-Offizier und einem Chemiearbeiter („nennen wir ihn für heute Abend Erwin Langer“), der Ersterem ein Glas Bier ins Gesicht schüttete und deshalb verhaftet wurde. Zirka 50 Jugendliche forderten die Freilassung, die wegen der Geringfügigkeit des Vorfalls sowieso bald erfolgte.

Eine Woche später allerdings wurden die Ereignisse auf einer Sitzung der SED-Kreisleitung ausgewertet, und die Genossen kamen zu dem Schluss, dass es nicht geduldet werden könne, wenn fortschrittliche Bürger mit Bier übergossen würden. Die gleichen Tätowierungen auf Armen und Händen von Langer und seinen Freunden wurden für den Vorwurf der Bandenbildung herangezogen. Eine gewisse Rolle spielten Langers überdurchschnittliche Intelligenz und seine Autorität unter den Jugendlichen der Kleinstadt. Dies waren genau die Eigenschaften, die den offiziellen Jugendvertretern der FDJ so abgingen.

Die gesamte „Clique“ wurde von Polizei und Staatssicherheit durchleuchtet, und der Sportpalast schien ihnen als Untergrund und dekadenter Unruheherd. Dass jemand aus dem Umfeld an einem Wildwestfilm mit 26 Morden arbeitete und bei vielen Schundliteratur aus dem Westen gefunden wurde, musste den alten Genossen genauso bedenklich erscheinen wie das nicht normgemäße Sexualverhalten in dem Lokal: „Es finden dort Sachen statt, die eigentlich zu Hause stattfinden müssten.“

Auch eigentlich positive Personen wurden bearbeitet und nach ihrem Vorbild gefragt, Antwort: Margot Honecker. Eine andere (Vorbild: Prof. Johannes Dieckmann) beschwerte sich in diesem Zusammenhang über die mangelnde Unterstützung der Jugend: „Die Band sind alte Herren, und die spielen ‚In Rixdorf is Musike‘.“ Tatsächlich wurden die Anregungen der Jugendlichen umgesetzt, ein Jugendklub entstand, das Kreiskulturhaus veranstaltete ab jetzt „Tanztee für die Jugend“ und Vorträge. Unglücklich ging die Rathenower Episode für Langer und seine Freunde aus: Sie mussten Haftstrafen zwischen einem Jahr und 18 Monaten absitzen.

4.000 bis 5.000 Jugendliche waren pro Jahr mit entsprechenden Haftstrafen Opfer der Repressionspolitik, ab Ende der Sechzigerjahre wurde der Straftatbestand des Rowdytums sogar offiziell eingeführt. Das neue Gesetz entstand gleichzeitig mit dem Asozialenparagrafen. Haftentschädigung bekamen nach der Wende nur Personen, die eine politische Begründung der Strafen nachweisen konnten.

Das Fazit des Historikers, für das er eine Linie bis zur Punkbewegung der 80er-Jahr zieht: Jugendliche waren für den SED-Staat potenzielle Feinde und verwehrten dadurch eine positive Identifizierung mit dem Land. So fiel es großen Bevölkerungsschichten und fast der ganzen Jugend später und besonders 1989 leicht, Abschied von der DDR zu nehmen. FALKO HENNIG