Die zart getönte Logik der sieben Gabis

Litauen gilt als das Randland der modernen Kunst. Protokoll einer Expertenreise in die Kulturhochburg Oslo

In der Abgeschiedenheit einer windschiefen Scheune arbeiten die avantgardistischen Künstler

Die Neugier war gewaltig: Keiner der mitreisenden Experten hatte jemals von einem einzigen litauischen Künstler gehört, die Idee der Existenz einer ganzen „Szene“ entzog sich schlicht jeder Vorstellungskraft. Nun hatte das „Staatliche Institut zur Vermehrung des Wissens über das Land am nördlichen Bosporus“ zu einer Informationsreise geladen.

Die Reiseleitung hatte der Chef der Instituts-Unterabteilung zur „Vermehrung des Wissens über die litauische Kunstszene“, Brio Taganauskas, höchstpersönlich übernommen. Taganauskas erwies sich als kenntnisreicher und begeisterter Führer. Ersteres erklärt sich daraus, dass bis auf eine Ausnahme alle litauischen Künstler zu Sowjetzeiten Kollegen von ihm waren: Sie arbeiteten in einer der zahllosen staatlichen Matroschka-Fabriken, in der von Taganauskas geleiteten Abteilung „Gesichter- und Schürzenmalen“. Die Begeisterung dagegen scheint zur Basisausstattung des litauischen Nationalcharakters zu gehören: Ausnahmslos alle Litauer, die wir trafen, fanden ausnahmslos alles toll. Besonders ihre Kunst.

In der litauischen Hauptstadt Oslo sollen gut vier Fünftel der Künstler des Landes leben. Das erläutert Brio Taganauskas in der Kantine seines Instituts, wo er einen einführenden Vortrag hält. „Zu Sowjetzeiten hatten wir ja gar keine richtige Kunst, so wie Sie das kennen. Da wurde höchstens mal ein Teppich gewebt. Oder wurden Sachen angemalt. Toll, was unsere Künstler jetzt in den wenigen Jahren geschafft haben! Trotz aller Materialprobleme! Sie werden sehen!“

Anschließend werden wir in einen altersschwachen Bus verfrachtet, um die litauische Avantgarde zu treffen. Der Bus hält hupend vor einer windschiefen Scheune in einem abgelegenen Viertel Oslos. Hier lebt seit drei Jahren in völliger Abgeschiedenheit eine aus vier Männern bestehende Künstlergruppe, die sich „Die sieben Gabis“ nennt. Sie haben ihre bürgerlichen Namen abgelegt und versuchen seither, mit einem Namen – „Gabi“ – auszukommen. Sie verstehen ihr Kunstprojekt als ein „Kommunikationsexperiment“, dessen Ziel darin besteht, dass auf Ansprache irgendwann wirklich immer derjenige „Gabi“ reagiert, der gemeint war. Der Namensteil „sieben“ soll „Demokratie“ und „Offenheit“ der Künstlergruppe symbolisieren.

Das ist litauische Logik, und dazu gehört auch, dass die „Gabis“ wieder unter ihrem eigenen Namen auftreten, sobald sie sich als Einzelkünstler präsentieren. Überhaupt scheint die gesamte litauische Kunstszene nur aus den Mitgliedern der „Sieben Gabis“ zu bestehen.

Der Einfluss vor allem westlicher Kunst auf die „Sieben Gabis“ ist unübersehbar. Das zeigt der Besuch des gemeinsamen Ateliers von Musa „Gabi“ Meronauskas und Kala „Gabi“ Kasinauskas. Beide „Gabis“ sind Fans der Schweizer Künstler Dieter Roth und Daniel Spoerri, von denen sie zwei Kataloge ungeklärter Herkunft besitzen. Meronauskas haben es die Spoerri’schen „Fallenbilder“ angetan, auf denen bekanntlich Abendbrottische unter Kunstharz fixiert werden. In Ermangelung von Kunstharz hat Meronauskas lange Zeit mit Aspik experimentiert. Seit es ihm aber einmal schlecht wurde, als er nach drei Wochen eines seiner Werke für eine Ausstellung aus dem Atelier holen wollte, lässt er den Aspik einfach weg. Kasinauskas dagegen gestaltet gern an Roth angelehnte Chaos-Räume; jeden ersten Dienstag im Monat verwüstet er seine Atelierecke und lädt anschließend zur Besichtigung. Gereicht wird selbst gekelterter Kartoffelwein, der nicht von allen Reisegruppenmitgliedern gleich gut vertragen wird.

Ein Rundgang durch das Atelier von Neri „Gabi“ Patanauskas verdeutlicht drastisch den erwähnten Materialmangel der Künstler. Patanauskas hat aus der Not eine Tugend gemacht. Pigmente für seine Malerei kann er nirgendwo kaufen – also stellt er sie selbst her, aus dem, was das Land ihm gibt. Und das sind in erster Linie Kartoffeln. So überrascht es nicht, dass seine Bilder von zarten Chamois-Tönen dominiert werden, nur hin und wieder aufgelockert durch einige Tupfer Dunkelrot (Rote Bete) und Hellrot (Preiselbeeren). Blau kommt in den luftig wirkenden Werken nicht vor – alle Versuche mit Kornblumen und Rittersporn scheiterten.

Anschließend sehen wir die Arbeiten von Piri „Gabi“ Sassanauskas, futuristische Stadtlandschaften – gefertigt aus Kastanien, jede einzelne kunstvoll ornamental bearbeitet.

Ein hessischer Kurator, den seit dem gestrigen Abend ein starker Schluckauf quält, bemängelt stark folkloristische Einflüsse. Die derart ausgebremste Begeisterung des Künstlers lässt sich nur durch den versöhnlichen Konsum des Nationalgetränks wieder herstellen. Daraufhin lässt die Reisegruppe alle Enthaltungsschwüre fahren und feiert mit den „Sieben Gabis“ und dem vorzüglichen selbst gekelterten Kartoffelwein die ganze Nacht ihr vermehrtes Wissen über die litauische Kunstszene.

BARBARA HÄUSLER