Ein neues Fenster ins Universum

Zwei US-Wissenschaftler und ein Japaner erhalten Physiknobelpreis für die Erforschung der kleinsten Teile im Weltraum. Die bahnbrechenden Arbeiten der Physiker führten zur Entdeckung der kosmischen Röntgenquellen und der solaren Neutrinos

Die Neutrinos, so die Theorie, sind elektrisch neutral und besitzen keine Masse

von KENO VERSECK

Das Weltall ist voll damit. Mit Lichtgeschwindigkeit fliegen sie überall unbemerkt hindurch. Mehrere tausend Milliarden strömen in jeder Sekunde durch den menschlichen Körper. Zu beobachten sind sie kaum. Die Neutrinos, „Neutralchen“, wie der italienische Physiker Enrico Fermi sie einst nannte, gehören zu den beständigsten und zugleich geisterhaftesten Elementarteilchen. Weitaus leichter als sie nachzuweisen wäre es, in der Sahara ein ganz bestimmtes Sandkorn aufzuspüren.

Mit diesem Vergleich würdigten Fachkollegen die Leistung von zwei der drei diesjährigen Physiknobelpreisträger: des US-Amerikaners Raymond Davis und des Japaners Masatoshi Koshiba. Die beiden Astrophysiker und Mitbegründer des jungen Forschungszweiges der Neutrinoastronomie konnten als erste kosmische Neutrinos experimentell nachweisen.

Nicht nur das. Mit dem Blick auf das winzige, äußerst selten wechselwirkende Teilchen eröffneten die beiden Forscher auch ein neues Fenster ins Universum. Gerade weil Neutrinos so selten wechselwirken, können sie Auskunft geben über Objekte und Vorgänge im All, von denen sonst kaum eine Botschaft zur Erde dringen würde.

Der Physiker Wolfgang Pauli hatte das Teilchen 1930 „erfunden“, um einen merkwürdigen Energieschwund in bestimmten radioaktiven Zerfallsprozessen zu erklären. Das Teilchen, so die Theorie, ist elektrisch neutral und besitzt keine Masse – daher die äußerst geringe Wechselwirkung mit anderer Materie.

Zwar wurden 1956 künstlich erzeugte Neutrinos nachgewiesen. Dass auch kosmische Neutrinos beobachtet werden könnten, glaubte damals niemand – außer Raymond Davis. Er baute Anfang der Sechzigerjahre in einem alten Goldbergwerk im US-Bundesstaat South Dakota einen Neutrinodetektor in Gestalt eines riesigen Behälters, den er mit 615 Tonnen des Reinigungsmittels Tetrachlorethylen füllen ließ. In einigen seltenen Fällen, so seine Berechnung, würden Neutrinos mit den Chloratomen zusammenprallen, sie in Atome des Edelgases Argon umwandeln und sich dadurch indirekt bemerkbar machen.

Nach drei Jahrzehnten hatte Davis unter den Myriaden Neutrinos, die in dieser Zeit durch den Behälter geflogen waren, immerhin 2.000 nachgewiesen. Fast zwei Jahrzehnte brauchte der heute 87-Jährige, um Kollegen von der Richtigkeit seiner Messergebnisse zu überzeugen.

Der Neutrinonachweis hatte Folgen: Mit ihm konnte Davis zeigen, dass die Sonne ihre Energie tatsächlich aus der Kernfusion gewinnt, dem Verschmelzen von Atomkernen – ein Prozess, bei dem Neutrinos ausgesandt werden und der bis dato nur theoretisch berechnet worden war.

Der japanische Astrophysiker Masatoshi Koshiba (76) bestätigte Jahre später Davis’ Messergebnisse. Er wies Neutrinos mit einem von ihm ersonnenen Detektor namens Kamiokande nach. Mehr noch: Der in einem stillgelegten japanischen Bergwerk aufgebaute Kamiokande-Detektor war in der Lage, den Ursprung der beobachteten Neutrinos zurückzuverfolgen. So gelang es Koshiba 1987, neben Sonnenneutrinos erstmals Neutrinos aufzuspüren, die von außerhalb der Milchstraße stammten.

Seit damals, gesteht Koshiba heute, wartete er auf den Physiknobelpreis. Anlass für die Ehrung hätte es auch vor vier Jahren gegeben. Ein verbesserter, von Koshiba mitentworfener Neutrinodetektor zeigte in einem spektakulären Experiment, dass Neutrinos, anders als die Theorie voraussagt, durchaus eine Masse besitzen, wenn auch eine extrem geringe. Falls andere Experimente dieses Ergebnis bestätigen, hätte das weit reichende Folgen für das Standardmodell des Universums und würde einige große Rätsel der Physik und Astronomie lösen.

Zusammen mit den beiden Mitbegründern der Neutrinoastronomie wird dieses Jahr auch ein dritter Astrophysiker mit dem Nobelpreis geehrt: Riccardo Giacconi, der 71-jährige italienisch-amerikanische Pionier der Röntgenastronomie. Röntgenstrahlung aus dem All ist auf der Erde nicht „sichtbar“, weil sie von der Atmosphäre absorbiert wird. Nachdem 1949 die Röntgenstrahlung der Sonne entdeckt worden war, baute Giacconi zu Anfang der Sechzigerjahre das erste ins All beförderte Röntgenteleskop und entdeckte damit die bis heute rätselhafte kosmische Röntgen-Hintergrundstrahlung und die ersten Röntgensterne am Himmel. Seither leitete Giacconi fast alle wichtigen röntgenastronomischen Satellitenmissionen. Zuletzt wirkte er am Bau des Chandra-Teleskops mit, das seit Mitte 1999 im All ist.

Die Röntgenastronomie bescherte Forschern von Anfang an große Überraschungen. Entdeckt wurden mit ihrer Hilfe riesige, bis heute unerklärliche Energieausbrüche im Weltall; erforscht exotische Objekte wie Braune und Weiße Zwerge, Neutronensterne, Pulsare, Quasare, Schwarze Löcher oder aktive Galaxien, die im optischen Bereich kaum oder nicht erkennbar sind, aber extrem starke Röntgenstrahlung aussenden. Eines ging dabei verloren: die Vorstellung vom Universum als eines trägen, sich nur langsam verändernden Ortes.