Erzählerische Strudel und Piraten

Zielgruppe 40-jährige, gebildete, urbane Besserverdienende: Der Erfolg der Zeitschrift beflügelte „mare“ zur Gründung eines Buchverlags mit Sitz in Hamburg. Belletristik und Sachbuch konkurrieren dort um den ausgefallensten Zugang zum Meer

von DORO WIESE

Wer die Nummer des Hamburger marebuchverlags wählt, wird mit Meeresrauschen und Möwengeschrei verbunden. Auch die Bücher des neugegründeten Verlags eröffnen allesamt den Blick aufs Meer, auf direkten oder verschlungenen Wegen. Kann ein Konzept, das sich allein dem Thema „Meer“ in allen seinen Spielarten verschreibt, erfolgreich sein? Die große Schwester des Verlags – die Zeitschrift mare – nickt selbstbewusst.

In Zeiten sinkender Auflagenzahlen im Printbereich schaffte mare den Durchbruch. Mittlerweile gibt es mare auch im Fernsehen zu sehen, mit wachsenden Zuschauerzahlen. Zielgruppe der Trademark mare sind 40-jährige, gebildete, urbane Besserverdienende – ein Publikum, das auch der Buchverlag anzuvisieren scheint. Das sorgfältig ausgesuchte Programm bietet anspruchsvolle Lektüre. Handverlesen wirken AutorInnen und ÜbersetzerInnen, die Verleger Nikolaus Hansen teilweise bereits aus dem Rowohlt-Verlag kennt, für den er zuvor tätig war.

Beispielsweise Antje Rávic Strubel, die bereits die Romane Offene Blende und Unter Schnee bei Rowohlt veröffentlichte: Strubel ist ein vielversprechendes Nachwuchstalent des deutschsprachigen Literaturbetriebs und erhielt in Klagenfurt den Ernst-Willner-Preis. Mit Fremd Gehen. Ein Nachtstück hat sie ein sperriges Stück Literatur geschrieben. Vordergründig ein Kriminalroman, betreibt die Erzählung ein gewagtes Spiel mit den erzählenden Figuren. Daniel, Mathematikstudent, vermeint Zeuge eines Mordes zu werden. Was in seine Wahrnehmung eingedrungen ist – worüber er also zu berichten weiß –, lässt jedoch das mörderische Geschehen nicht nachvollziehen. Während Daniel die Wirklichkeit nach Indizien absucht und dabei immer tiefer in den Strudel seiner eigenen Vorstellungen gezogen wird, geraten die LeserInnen durch geschickte Erzählmanöver in einen Schwindel erregenden Taumel. Denn Daniel entpuppt sich als Erfindung einer weiteren erzählenden Figur, um schließlich zum Geschöpf der Interaktion zwischen Text und Leserin zu werden.

Weniger experimentell fallen die anderen belletristischen Werke sowie die fünf Titel der Sachbuchreihe aus. Dennoch ist der Mut zum Ausgefallenen, bisweilen sogar Exzentrischen offenkundig. Ausgegrabene Fundstücke wie Gambinis Roman Ein Kinderspiel von 1947 oder die Erzählung Zwei Frauen am Meer der gebürtigen Libanesin Hanan al-Shaykh bezeugen eine Suche nach geographischen oder literaturhistorischen Randbezirken.

Die Geschichte der Piraterie ist hingegen literarisch erobert, in ihrer Wirklichkeit aber wenig erkundet. Douglas Steward schließt mit Piraten diese Lücke. Dass die Grenze zwischen Literatur und Sachbuch zum Überschreiten einladen kann, beweist wiederum Charles Sprawsons Kulturgeschichte des Schwimmens Ich nehme dich auf meinen Rücken, vermähle dich dem Ozean. Detailverliebt trägt Sprawson eine derartige Fülle von unwahrscheinlichen Geschichten zusammen, dass man ihre Wahrhaftigkeit zu bezweifeln beginnt. Ganz beiläufig erfährt man dort von spekulativem Schwimmen, der Erfindung des Brust- und Kraulschwimmens sowie der psychologischen Besonderheit eines kulturellen Phänomens, das erst im 19. Jahrhundert an Popularität gewann. Und das ist alles so merkwürdig, dass man innerlich zu bitten anfängt: Mehr Meer!

Antje Rávic Strubel, Fremd Gehen. Ein Nachtstück, 191 S., 18 EuroPier Antonio Quarantotti Gambini, Ein Kinderspiel, 230 S., 19,90 EuroHanan al-Shaykh: Zwei Frauen am Meer, 127 S., 18 Euro Douglas Stewart, Piraten, 468 S., 28 EuroCharles Sprawson, Ich nehme dich auf meinen Rücken, vermähle dich dem Ozean, 335 S., 24,90 EuroWeiteres siehe www.marebuch.de