Global denken, lokal telefonieren

Die Teilnehmer am Kongress „Urban Drift“ wollen die Städtenomaden in Nachbarn verwandeln. Als jüngste Motoren der erhofften Entwicklung wurden die drahtlosen lokalen Verbindungsnetze entdeckt, die zu neuem Zusammenhalt führen

Plädoyer für eine Renaissance nachbarschaftlicher, lokaler Bindungen

von HENRIKE THOMSEN

Seit den ersten Globalisierungswellen im 20. Jahrhundert sind es stets Architekten, Architekturkritiker und Stadtplaner gewesen, die das Phänomen neuer globaler Beziehungen früh erkannten und konkret auf den sozialen Raum übertrugen. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts überwog die Begeisterung für die Internationalisierung der Architektur und die fabrikmäßige Funktionalisierung der Stadt; ab den Fünfzigerjahren dagegen mehrte sich die Kritik an Autostädten und wuchernden urbanen Großräumen, an anonymen Wohnmaschinen, Einkaufszentren und Firmenzentralen, die die Moderne geschaffen hatte. Für diese Kritik spielten die trügerischen Heilsversprechen neuer Techniken, insbesondere an den Gemeinschaft versprechenden und oftmals Isolation stiftenden Kommunikationstechniken, eine entscheidende Rolle.

Der Kongress „Urban Drift“, der jetzt zum zweiten Mal in Berlin stattfand, gewährte wertvolle Einblicke in den neuesten Stand dieser Debatte. Seine Kuratorin Francesca Ferguson hatte aufgerufen, die Fetischbegriffe Mobilität und Flexibilität im Licht der jüngsten Enttäuschungen über New Economy und Börsencrashs neu zu diskutieren. Der Architekturdiskurs der letzten Jahre habe sich allzu sehr für die globalen Mobilitätskonzepte der Wirtschaft begeistert, so Fergusons Vorwurf. Tatsächlich sei der urbane Nomade, ausgestattet mit Laptop und Handy, „mehr Sklave als Gewinner“ des Marktes. „Wie können die elektronischen Medien, mobile und drahtlose Telekommunikationssysteme, als effektive Werkzeuge eingesetzt werden, um ein neues Ortsgefühl und mobile Verbundenheit zu erzeugen? Lässt sich damit ein neuer Raum, eine neue politische Identifikation erzielen?“, hießen die Ausgangsfragen.

Natürlich gab es auf dem zweitägigen, gut besuchten Kongress im Café Moskau keine eindeutigen Antworten und abschließenden Praxisanleitungen. Vielmehr entdeckte man gerade in der Uneindeutigkeit und Unübersichtlichkeit des komplexen urbanen Raums Widerstandsalternativen und beschwor eine Rückbesinnung auf die subversiven Qualitäten der Mobilität, verstanden im Sinne eines sich dem Einfluss von Markt und Politik entziehenden, situationistischen Umherschweifens. „Urban Drift 2002“ plädierte für eine Renaissance nachbarschaftlicher, lokaler Bindungen und Re-Kontextualisierungen, dabei ungebrochen den Mythos seiner Gastgeberstadt beschwörend, obwohl Berlins Struktur aus Kiezen und Brachen derzeit kaum noch subversive Kraft generiert.

Ole Bouman von dem holländischen Archis Magazin definierte am ersten Tag die Architektur der Zukunft auf der Basis einer deleuzianisch angehauchten Zeitphilosophie. Die Vorherrschaft statischer Raumgesetze sah er zugunsten temporärer, einmalig inszenierter Ereignisräume gebrochen. Bauten wären demnach künftig unspezifisch in ihrer Gestalt und vollständig wandelbar sowohl mit Blick auf das geografische Territorium, das sie besetzen, als auch auf die Zwecke der Benutzer. Schon in den Sechzigerjahren habe er Versuche mit Räumen gemacht, die sich ihren Usern anpassten und je nach Stimmung ihre Farben wechselten, wandte Lars Lerup dagegen ein. Der heutige Dekan der Architekturfakultät in Houston erinnerte an die utopischen Visionen von Buckminster Fuller, Constant, oder Cedric Price aus jener Zeit, an welche der heutige Diskurs über eine Architektur als spielerische Wunschmaschine anknüpft. (Prie hatte im Übrigen den ersten Kongress „Urban Drift 2001“eröffnet.)

Im Allgemeinen zeigte sich der Kongress mehr an der sozialen als an der technisch-ästhetischen Dynamik interessiert. Der Mailänder Architekt und Stadtplaner Stefano Boeri entwarf am zweiten Tag das Bild einer städtischen Polyarchie, in der sich verschiedenste Gruppen zu den verschiedensten Zielen innerhalb der vorhandenen Strukturen selbstständig organisieren. Diese lokalen Netzwerke, welche an die kommunitaristischen „Kinder der Freiheit“ von Ulrich Beck erinnern, bildeten die Hoffnungsträger in vielen anderen Projektvorstellungen und Podiumsdiskussionen.

Um der Determinierung durch die bestehenden Machtstrukuren (des Marktes und der auf Homogenität zielenden bürgerlichen Gesellschaftspolitik) zu entgehen, so ließe sich die Logik zusammenfassen, muss man sich ihre Überstrukturierung zunutze machen. Als jüngste Motoren der erhofften Subversion wurden die drahtlosen lokalen Verbindungsnetze entdeckt, die seit einiger Zeit Mobilfunk- und Internetprovidern zu schaffen machen. Mit schlichten technischen Mitteln und gegen geringe Gebühren ermöglicht die WLAN-Technik (Wireless Local Area Network) per Funk Zugang zum Web und zum Telefonnetz. Ihre Vertreter sprachen auf dem Kongress mit punkiger Schadenfreude über „The Great UMTS Swindle“, dem sie sich – die Tradition von früheren Radio- und Netzpiraten belebend – entziehen. Zugleich verschafften diese lokalen Netze einen Zusammenhalt unter den Nutzern, versicherten die Initiatoren aus London und New York. Man trete in gegenseitigen Kontakt, fühle sich nicht anonym, sondern aufgehoben in einem „Netz persönlicher Geschichten“.

Übertragen auf urbane Strategien, erinnern diese Positionen an die Rückbesinnung auf die Qualitäten der eigenen Straße und des eigenen Viertels, wie Kritiker der zweiten Globalisierungswelle in der Nachkriegszeit die Widerstandskraft des Kiezes in Berlin oder der New Yorker neigbourhoods formuliert hatten.

Eine zentrale Frage lag für die Teilnehmer von „Urban Drift“ jedoch in der Frage, wie autonom und frei diese Freiräume heute tatsächlich seien. So wies Friedrich von Borries des Berliner Büros Rude Architecture auf die Werbekampagnen von Nike hin, die sich geschickt das Image einer Stadtguerilla und Kiez-Anwaltschaft zu Eigen gemacht hatten. Und kann der Versuch, marginalisierte und entwertete Räumen zu besetzen, tatsächlich wirksam auf die eklatanten Fehler marktgesteuerter Stadtentwicklungsprozesse reagieren? Es war das erklärte Verdienst von „Urban Drift“, solche Fragen in Erinnerung zu rufen und zeitgenössisch aktuell an ihnen entlang zu denken.