Ein Autor mit A-Problemen

Als Kolumnist der „jungen Welt“ rief Karsten Krampitz einst zu Anschlägen auf, und mit Obdachlosen besetzte er das Hotel Adlon und das Kempinski: Jetzt hat er mit „Der Kaiser vom Knochenberg“ einen Entwicklungsroman geschrieben. Ein Porträt

von JAN BRANDT

Sein rechter Arm ist um einige Zentimeter kürzer als der linke. Die Finger hängen schlaff herab, und überall an seinem Körper bilden sich hin und wieder Beulen. Vor ein paar Monaten erst wurde ihm eine davon unterhalb der Hand entfernt. Die Narbe sieht aus, als habe er versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Aber der Gedanke an Selbstmord liegt Karsten Krampitz fern. Früher, in der Pubertät, während des Wachstums, sei alles viel schlimmer gewesen. Sechzehn Operationen hat er seither über sich ergehen lassen müssen, doch jetzt, mit 32, spüre er die Krankheit kaum noch. Nur im Zwischenmenschlichen macht sie sich bemerkbar. Irgendwann fragt ihn jeder nach dem Grund seines zu kurz geratenen Arms. Und weil er die Frage nicht mehr hören kann, hat er den Roman „Der Kaiser vom Knochenberg“ geschrieben.

Der Knochenberg ist eine Siedlung auf einer Anhöhe im fiktiven Dorf Wolzow bei Berlin. Woher der Name des Berges kommt, weiß niemand so genau. Vielleicht weil die örtliche Metzgerei seit Generationen dort heimlich Knochen entsorgt oder weil die Anwohner von den unterschiedlichsten Gebrechen geplagt werden. Wer hier nicht über sechzig ist, gehört zu den so genannten „Andersbegabten“, trägt eine Brille mit Bifokalgläsern, hat einen Wasserkopf oder einen künstlichen Darmausgang. Makellos scheint zunächst nur der junge Tobias Schäbitz zu sein, der in einer Welt voller Geheimnisse und versteckter Gewalt aufwächst. Bald leidet er aber unter dem gleichen Handicap wie Krampitz. Er kommt in ein Behindertenheim, wird dann Taxifahrer in Berlin und lernt eine Frau namens Esther kennen.

Er traut sich jedoch nicht, ihr die Wahrheit zu sagen, aus Angst, sie würde Schluss machen, sobald sie erfährt, dass die Knochenkrankheit erblich ist. Er erzählt Esther, dass er als Kind einen schweren Autounfall hatte, und versteckt den Arm unter der Jacke. Aber Esther stört das nicht, nennt ihn scherzhaft „Napoleon“ und sagt, dass sie ihn trotz Behinderung liebe. Die Beziehung funktioniert, bis sie schwanger wird und er ihr sagen muss, warum sein Körper so ungewöhnliche Symptome aufzeigt.

Karsten Krampitz hat sich wie sein Alter Ego die Geste Napoleons immer noch nicht abgewöhnt. Er sitzt draußen vor dem „Bukowskis“ am Teutoburger Platz, trinkt Bier, redet mit dem Kellner und schiebt den Ärmel seines Pullovers über den rechten Arm. Trotzdem wirkt er selbstbewusst und räumt ein, sich hier im „Bukowskis“ auch schon mal geschlagen zu haben, mit seinem Nachbarn. „Die Krankheit hat in meiner Jugend alle meine Energien verbraucht“, sagt er, „danach hatte ich einen gewaltigen Überschuss.“

Gewöhnlich trägt er seine Konflikte aber andernorts aus. Als Kolumnist der jungen Welt forderte er 1992 zum Brandanschlag auf eine Berliner Zweigstelle der Treuhandanstalt auf und prophezeite dem Geschäftsführer der Zeitung, dass er bald Post erhalten werde, die er besser allein öffne, wenn er keine Unschuldigen gefährden wolle. Beide Aktionen brachten ihm viel Ärger ein und führten zu einer Dienstaufsichtbeschwerde beim Landesamt für Statistik, wo er als staatlich geprüfter Betriebswirt arbeitete und für Friedhöfe und Geschlechtskrankheiten zuständig war. Um seinem Leben eine andere Richtung zu geben, holte Krampitz das Abitur nach und begann, an der Humboldt-Universität Geschichte, Politik und Literaturwissenschaft zu studieren. Nebenbei schrieb er Kurzgeschichten, gewann Preise und veröffentlichte in einem Kleinverlag den Erzählband „Rattenherz“, der zu Harry Rowohlts Lieblingsbüchern zählt. Er engagierte sich für Obdachlose, gab in einer Wärmestube Essen aus und redigierte die Straßenzeitung Strassenfeger. Es schien, als habe Krampitz einen Weg gefunden, die aufgestaute Energie umzusetzen, ohne anzuecken.

Aber Karsten Krampitz wollte kein angepasster, braver Autor mit Uni-Abschluss sein. So besetzte er bald mit Stadtstreichern die Nobelhotels Adlon und Kempinski und gründete eine „Bettelakademie“. Als er deswegen in der Talkshow von Bärbel Schäfer zum Thema „Für Geld mach’ ich alles“ neben einer Pornodarstellerin und einem Jauchetaucher auftreten sollte, wies ihn der Redakteur beim Casting darauf hin, bei der Diskussion grundsätzliche Fragestellungen besser nicht zur Sprache zu bringen: „Wir machen eher so B-Probleme in der Sendung.“ Nachdem sie sich eine Weile über den „Grundwiderspruch des Kapitals“ unterhalten hatten, merkte der Redakteur wohl, dass er mit Krampitz als Gast ein A-Problem haben würde, und entschied, ihn wieder auszuladen.

Sein ganzes Leben ist bestimmt von dieser Spannung zwischen Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung und dem Bedürfnis zu rebellieren. „Ich habe nie aussteigen wollen“, sagt Krampitz. Im Gegenteil. Protest und Schreiben seien für ihn Ausdrucksformen, um auf Probleme aufmerksam zu machen und andere als Verbündete zu gewinnen. So ist auch der Roman „Der Kaiser vom Knochenberg“ ähnlich wie Benjamin Leberts „Crazy“ eher ein Entwicklungsroman als eine persönliche Leidensgeschichte.

Karsten Krampitz erzählt darin mit viel Witz von einer schwierigen Kindheit in der DDR, von engen Verhältnissen in der ostdeutschen Provinz, von einer Mutter mit Vermüllungs-Syndrom, von prügelnden Senioren und von einer Krankheit, die angesichts des allgemeinen Verfalls wie eine Befreiung wirkt. „Für mich ist das was ganz Normales, dass die Leute alle einen kleinen Schaden haben“, sagt Krampitz, und manchmal sehnt er sich nach Menschen, die nicht perfekt sein wollen und zu ihren Fehlern stehen. Dann hätte er das Gefühl, zu Hause zu sein, und müsste seinen Arm nicht länger verstecken.

Karsten Krampitz: „Der Kaiser vom Knochenberg“. Ullstein Verlag, Berlin 2002, 190 S., 18 €. Karsten Krampitz liest heute ab 20 Uhr im Roten Salon der Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz