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berlin buch boomAmbros Waibel erinnert sich in seinem Buch „My private BRD“ an eine Kindheit und Jugend in den letzten Jahren der alten Bundesrepublik

Der Krieg in den Vorstädten

„Mir geht es gut. Ich sitze in der warmen Badewanne“, begann Florian Illies seine Erinnerungen an die Siebziger- und Achtzigerjahre. Über die feinen Risse, die sich durch die Welt der saturierten Mittelschichten ziehen, erfuhr man in „Generation Golf“ nichts, obwohl sie sich gerade vor dem Hintergrund strahlend weißer Fliesen besonders deutlich zeigen müssten. Dafür fallen sie in Ambros Waibels Rückblick „My private BRD“ nun umso größer aus. In der kleinen Wohnung der Eltern kündigten sich die Tage mit einem kurzen, aber heftigen Ehestreit an, woraufhin erst die Mutter kalt duschte und dann der Vater für unbestimmte Zeit in der Badewanne verschwand.

Der Autor und Übersetzer Ambros Waibel, Jahrgang 1968, weiß, wie dünn das Holz der Türen war, auf denen die „Sammelbildchen für Biene Maja und Pinocchio und die WM in Argentinien“ klebten. Hell, vor allem aber hellhörig waren die Häuser in der Münchner Vorstadt, in der vor allem Angehörige der Bundeswehr wohnten.

Während die Männer in den Kasernen das Ende der Nachkriegszeit abwarteten, führten sie daheim private Feldzüge und Abwehrschlachten. Der Vater entzog sich dem Essen seiner Frau mit einem privaten Vorratslager im Keller des Hauses und die Mutter rächte sich mit den Waffen des Zeitgeistes: Als ihr Mann von einer Tagung zurückkehrt, ist der Wohnungsflur vom Fußboden bis zur Decke im Saunastil vertäfelt. Das ist der Krieg in den Vorstädten. Zugleich fand der „bewaffnete Kampf“, der zu jener Zeit Schlagzeilen machte, seinen Niederschlag in den eigenen vier Wänden in Form von grotesken Fantasien: „Als mein ältester Bruder 1979 seine linksradikale Karriere begann, erwog mein Vater, ihn zu erschießen.“

Das Private ist politisch – Ambros Waibel gibt diese Binsenweisheit an die Achtundsechziger zurück und stellt die berechtigte Frage, warum die „Reformer nicht einfach in die modernen, bereits mit jeder Schalldurchlässigkeit ausgestatteten Häuser zogen, anstatt in Altbauten die Türen zu entfernen?“ Solche allgemeineren Betrachtungen ergänzen die persönlichen Erinnerungen des Erzählers, der offenbar mehr oder weniger mit Ambros Waibel identisch ist. So wird aus „My private BRD“ zuletzt ein längerer Essay über das langsame Verschwinden der alten Bundesrepublik, der seinen Schlusspunkt aus der bayerischen Perspektive konsequenterweise „88/89“ findet: mit dem Fall der Mauer und dem Tod von Franz Josef Strauß.

Die essayistischen Passagen überraschen zunächst etwas unangenehm mit Anachronismen – wie der „Walmartisierung“ der Gesellschaft – und mancher Ungeschicklichkeit: mit „unsubtilen“ Taktiken oder Wirklichkeit als „realer Präsenz“. Doch die sprachlichen Abweichungen sind nur schlüssig. Es ist das Unbehagen gegenüber den vergangenen wie auch den „neuen Zeiten“, das Ambros Waibel den modischen Jargon der Gegenwart und die Sprache der Erinnerungen durcheinander geraten lässt. Man sieht es ihm gerne nach. Der Bedarf an sauberer, weiß gekachelter Nostalgie ist ohnehin gedeckt – auch wenn Ambros Waibel beziehungsweise sein erzählendes Alter Ego heute manchmal gedankenverloren in der Badewanne sitzt und an früher denkt. Er sieht dem Wasser dabei zu, wie es in einem Strudel den Abfluss hinunterrauscht, bis seine Freundin schließlich entnervt an die Tür klopft: „Ich drehe das Wasser auf kalt und stehe kurz darauf mit dem Einwegrasierer am Waschbecken an der offenen Tür. Dann höre ich mein Kind.“

KOLJA MENSING

Ambros Waibel: „My private BRD“. Verbrecher Verlag, Berlin 2002. 112 S., 12 €

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