Ein lieber böser Wolf

Die „steptext dance company“ hat keine Angst vor großen Themen. Am Jungen Theater tanzen sich die DarstellerInnen von „L‘Automne“ durch altbekannte seelische Abgründe

„Das Akkordeon spielt, während eine neue Geschichte von jungen Leben erzählt, die in die falsche Richtung laufen, von den Tiefen und Höhen, die die Menschheit erreicht“: Pathetische Programmatik der Band „Tiger Lillies“, die sich die Bremer „steptext dance company“ für ihr Abendprogramm „L‘Automne“ am Jungen Theater zu Herzen genommen hat.

„Heaven to Hell“ singen die „Lillies“, während Ziv Frenkel auf der Bühne zuckt und zittert. Im Hintergrund sitzt Marion Amschwand an einem altmodischen Teetischchen und erzählt vom „Rotkäppche“, in einem Schwitzerdütsch, das die norddeutsche Seele augenblicklich bei der Tränendrüse packt. „Kein Rotkäppchen/Für die stille Stimme“ heißt die Arbeit, die den Abend eröffnet, aber den bösen Wolf gibt es doch. An einer Babypuppe vergeht er sich, deren Mund zugeklebt ist, deren Arme in die Hose des Bösen gezwungen werden. Der wird ganz lieb und vorsichtig mit dem zerbrechlichen Ding, und auch sein zwanghaft vor der Brust herumruckender „Händetanz“ nach der Tat ist schön anzusehen. Ein ambivalentes Seherlebnis, wenn das Schreckliche so dezidiert hübsch dahergetanzt kommt.

„Süßer Wahn“ heißt der zweite Abgrund: Ein Mann greift eine Frau am Gesicht und dreht sie von sich weg. Sie windet sich heraus, biegt sich aber sofort wieder zu ihm hin. Er packt sie am Arm und wirft sie auf den Tisch. Sabrina Hauser und Günther Grollitsch tanzen ein diffiziles Beziehungsmachtspiel, sie eine biegsame Eleganz, er kantiger Brutalo-Casanova.

Auch „Schlafwandler“ erzählt von einer unglücklichen Beziehung. Die Figuren (Anne Minetti und Ziv Frenkel) finden nicht zu gemeinsamen Bewegungen, verharren in stocksteifen Hebepositionen. So tanzen sie die meiste Zeit nebeneinander her, meinen aber immer die andere Person, Minetti beispielsweise in einer circa fünfminütigen „Pulverfasschoreografie“: Tippelt von einem Fuß auf den anderen, ruckt mit den Schultern, ballt die Fäuste, schlägt sich immer wieder selbst und fällt schlussendlich zu Boden. Eine vielschichtige Choreografie, in der ein Zusammen der Tanzenden nur in der Vorstellung existiert.

Wenn nur der Kitsch nicht wäre. Er ist der vierte Abgrund, an dessen Rande sich alle drei Arbeiten entlanghangeln und hin und wieder, wie der Federtanz von Anne Minetti, leider ausgleiten. Derart blumige Bildhaftigkeit hätten die Arbeiten besser vermieden, gerade weil sie sich schon thematisch an Altbekanntem orientieren, ohne große interpretatorische Sprünge zu wagen.

Trotzdem: Durch ausdrucksvollen und sehr präzisen Tanz und hin und wieder szenischen Humor gelingt es der „steptext dance company“ letztendlich, den Absturz zu vermeiden und den Abend auf der Höhenseite des Lebens zu platzieren.

Lene Wagner