: Nostalgische Wahrheit ohne Ironie
Erinnerungen der ehemaligen Kiev-Besatzung: Johannes Holzhausens Dokumentarfilm „Auf allen Meeren“
Von altem Metall geht ein seltsamer Reiz aus. Noch dazu, wenn es sich um ein Schiff handelt. Das konnte im Kleinen bemerken, wer einmal auf der MS Stubnitz eine Nacht verbracht hat, wenn sie in Hamburg vor Anker lag. Gewöhnliche Konzerte oder Partys mit DJs, die regelmäßig auch an anderen Orten der Stadt auflegen, bekamen da plötzlich eine eigentümliche Aura, als klebe an den metallenen Wänden des alten Schiffs die Erinnerung an eine für jeden Einzelnen beliebige Vergangenheit. Und ständig will man an Teilen des Schiffs herumklopfen, wie um sich von der Echtheit dessen zu überzeugen, was man ihm anhängt. Die Beschaffenheit der Projektionen, die sich mit der ausgemusterten Kiev verbinden, mit dem größten Überwasserschiff der sowjetischen Kriegsmarine, hat Johannes Holzhausen in seinem Dokumentarfilm Auf allen Meeren sondiert.
Mehr als fünf Jahre lang hat das Team des Wieners den Flugzeugträger begleitet. Einst das Renommee-Objekt des Militärs der UDSSR, lag die Kiev in den 90ern nur noch bei Murmansk vor Anker, vom Kapitän und einer reduzierten Mannschaft notdürftig gewartet. Es war die Zeit, wie einer ihrer Ex-Kommandanten in die Kamera erzählt, als das „ökonomische Chaos“ losging. Zahlreiche andere Kriegsschiffe der Sowjet-Marine waren aus Geldmangel bereits verkauft, die meisten zur Verschrottung nach China. Um 1995 wurde auch die Kiev zum Verkauf angeboten, wieder interessierten sich die Chinesen: Sie wollten an die erfolgreiche Umwandlung der Murmansk zum größten Themenpark der Nation mit einem noch größeren Projekt anschließen.
Holzhausen zeigt zwar – unterstützt durch Archivmaterial und illegal entstandene Laienfilme – ausgiebig das Schiff, von der Taufe durch Breschnew über seinen Verfall bis zur Reise nach China. Doch vor allem ist es ihm der Resonanzboden für die Erinnerungen ehemaliger Besatzungsmitglieder. Und die schwärmen ausnahmslos noch heute von seinem vergangenen Glanz. Heute sind sie Bauern, Oberstrandwächter oder Angehörige des Militärs der Einzelstaaten, in die das Sowjet-Imperium zerfallen ist. Nicht eine politische Überzeugung, vielmehr die empfundene Bedeutungslosigkeit ihres Tuns heute, ihre Armut und die Überzeugung, dass es ihnen im Sozialismus besser ging, lassen sie ausgiebig im Vergangenen schwelgen.
Auf allen Meeren nimmt nicht einfach Ewiggestrige in den Blick, sondern die komplizierte psychische Verfassung von Menschen, denen der Staat einmal eine Verantwortung übergeben, aber auch wieder genommen hat. Der vielleicht klügste Schachzug des Films: Er spürt die Autoritätsfixierung, ohne die das nicht möglich gewesen wäre, auch in der postsowjetischen Gesellschaft auf.
Auf Off-Kommentare verzichtet der Film ebenso wie auf ironisierende Gesten à la Russendisko oder Felix Kubin. Völlig ohne Augenzwinkern werden hier Leute beim inbrünstigen Singen alter sowjetischer Lieder gezeigt: Es ist ihre nostalgische Wahrheit. Ihre Trauer über das „Ende der Geschichte“ wird uns nicht zur Belustigung vorgeführt, sondern zum Begreifen. Die restlichen Töne des Films sind vom Sounddesigner Michael Palm bearbeitete Geräusche der Kiev selbst: verzerrtes und verstärktes Ächzen und Stöhnen des Materials, Klopfen an dem verrostenden Metall, aus dem das geisterhafte Schiff beschaffen ist.
Christiane Müller-Lobeck
Do, Fr + Mo–Mi, 18.30 Uhr, 3001
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