Polyphonie als filmischer Ausdruck

Ein Regisseur, der musikalische Filme macht und trotz der Erfahrung sowjetischer Zensur nicht vom Wodka ablässt: Am Montag startet im Metropolis eine umfassende Retrospektive des seit 1982 in Frankreich lebenden Georgiers Otar Iosseliani

„Das Georgien, das ich kannte, ist entgültig verschwunden.“

von ALEXANDER MIRIMOV

Für seinen letzten Film, Montag Morgen, gewann er den Regiepreis bei der diesjährigen Berlinale. Erzählt wird die Geschichte eines französischen Fabrikarbeiters, der eines Montagmorgens beschließt, aus der Monotonie des Alltags auszubrechen, der sich auf eine abenteuerliche Reise begibt und nach einer Woche verklärt wieder nach Hause zurückkehrt. Der Regisseur des Films heißt Otar Iosseliani.

Mit einer umfassenden Retrospektive seiner Filme bietet das Metropolis dem Hamburger Publikum eine einmalige Gelegenheit, die oben beschriebene Erfahrung auf „filmtypische“ Art zu machen. Gegen Ende der Reihe wird man Otar Iosseliani – den wohl französischsten aller georgischen Regisseure und einen der letzten verbliebenen Klassiker des europäischen Films – auch persönlich erleben können.

Der in Tbilissi Geborene studierte anfangs Musik und später Mathematik, bis er am Ende der fünfziger Jahre zum Film wechselte und ein Regiestudium an der Moskauer Filmhochschule WGIK absolvierte. Aus diesem nur auf den ersten Blick mit „überflüssigen“ Informationen gefüllten Satz lässt sich mit genug Einsicht eine mehr oder weniger universelle Formel für Iosselianis kinematographisches Werk ableiten.

Als erstes nehme man Georgien, die eigenartige Filmoase im ex-sowjetischen Kaukasus: „In Georgien habe ich den Größteil meines Lebens verbracht; ich liebe und kenne dieses Land ... Und ich denke, dass es unmöglich, ja sogar verwerflich ist, über die Realität eines Landes zu sprechen, das man nicht intim kennt.“ Seit 1982 lebt der Regisseur in Frankreich, wo er seine meisten Filme gedreht hat, ohne dabei nur einen kleinen Teil seines „Georgentums“ eingebüßt zu haben. Die Paradoxie besteht aber darin, dass er zugleich als einer der „französischsten“ Regisseure der Gegenwart und der einzige große Erbe von Vigo und Tati gefeiert wird, was nur noch zum wiederholten Male beweist, wie ephemer die Grenzen und wie überflüssig die Klischees sind, besonders in der Kunst. „Im Prinzip glaube ich nicht daran, dass man irgendwohin zurückkehren kann; die vergangene Zeit kann nicht mehr eingeholt werden ... Das Georgien, das ich kannte, ist entgültig verschwunden. Es geht ja nicht nur um das Auftauchen von neuen Gesichtern, vielmehr – und das ist das Schmerzlichste für mich – hat sich der Ausdruck in den Gesichtern vollständig verändert.“

Beständig dagegen sind die Gesetze der Musik, die nach Iosselianis Auffassung dem Wesen des Films viel näher liegen als jede andere Kunst, inklusive der Literatur. Seine Filme bezeichnet er selbst als einen Ausdruck der (für den georgischen Gesang grundlegenden) Polyphonie. Kein Wunder, dass Musiker dabei oft zu Protagonisten einzelner Filme werden – wie in Pastorale aus dem Jahre 1976, dem Streifen, nach dessen Verbot Iosseliani beschloss, das Land zu verlassen.

Die integrativwissenschaftliche Ausbildung, die ja vielen sowjetischen Regimekritikern eignete, mag ihrerseits zu Iosselianis Sachlichkeit, dem „dokumentarischen“ Zug seiner Sprache beigetragen haben. In Es war einmal eine Singdrossel (1971) versäumt der Held – übrigens auch ein Musiker – es nicht, durch das Mikroskop eines naturwissenschaftlich beschäftigten Freundes zu blicken.

Dass der zukünftige Franko-Georgier ausgerechnet in Moskau sein Handwerk gelernt hat, kann aus der heutigen Sicht auch paradox erscheinen, zumal Iosselianis Verhältnis zu Russland äußerst ambivalent ist. Fest steht aber: Weder politische Unterdrückung noch die Willkür der Zensur (der westliche Zuschauer wundert sich gewöhnlich nicht wenig über die Gründe, die zum Verbot von Iosselianis ausgesprochen unpolitischen Streifen geführt haben) haben etwas daran ändern können, dass Iosseliani Wodka allen anderen Getränken vorzieht (nach dem von ihm so oft besungenen georgischen Nationalgetränk Wein) und Boris Barnet seinen Lieblingsregisseur nennt. Bei Letzterem lässt sich aber sofort bemerken, dass er seinerzeit von den Regisseuren der französischen Nouvelle Vague bewundert und für einen Kultregisseur gehalten wurde. So ist sie eben, die Filmgeschichte.

Es war einmal eine Singdrossel: Mo, 17 Uhr + Di, 19 Uhr; Kurzfilmprogramm: Mo, 21.15 Uhr + Di, 17 Uhr; Pastorale: Mi, 21.15 Uhr + Do, 24.10., 17 Uhr; Listopad: Sa, 26.10., 21.15 Uhr + Do, 31.10., 17 Uhr; Otar Idsseliani dreht „Lundi Matin“ (Gast: O. Iosseliani): So, 27.10., 19 Uhr; Marabus: So, 27.10., 21.15 Uhr (Gast: O. Iosseliani) + Mi, 30.10., 19 Uhr; Jagd auf Schmetterlinge: Mo, 28.10., 21.15 Uhr (Gast: O. Iosseliani) + Di, 29.10., 17 Uhr; Die Günstlinge des Mondes: Di, 29.10., 19 Uhr, Mi, 30.10., 17 Uhr + Do, 31.10., 21.15 Uhr, Metropolis