„Er arbeitete eben im Untergrund“

Ein zweites Leben im Paradies? Das ist nicht das einzige Motiv, das Raid Sabbah in seinem Buch „Der Tod ist ein Geschenk“ über die Beweggründe eines Selbstmordattentäters herausgefunden hat. Sabbah träumt von einer anderen Normalität, die den Weg zum Frieden erst möglich machen würde

von KIRSTEN KÜPPERS

taz: Herr Sabbah, Ihr Buch erzählt die Geschichte eines palästinensischen Selbstmordattentäters. Das Thema ist sehr aktuell. Wollten Sie einen Bestseller schreiben?

Raid Sabbah: Ich wollte wissen, wie jemand dazu kommt, sich einen TNT-Gürtel um die Hüfte zu schnallen, nach Jerusalem zu gehen und sich selbst und unschuldige Zivilisten in die Luft zu jagen. Als Palästinenser in Deutschland werde ich von Bekannten oft befragt, gerade nach dem 11. September. Ich sehe nicht, dass ich da ein Modethema behandele. Ich setze mich mit dem Konflikt in meiner Heimat auseinander.

Es gibt andere Widerstandsformen. Warum ausgerechnet die Selbstmordattentäter?

Welche anderen Widerstandsformen gibt es denn? Das ist doch genau der Punkt. Friedliche Gespräche haben nichts gebracht. Man hat jahrelang den Osloer Friedensprozess verfolgt und gehofft, dass es zu einer dauerhaften Lösung kommt, zu einem Staat Palästina. Aber die israelischen Siedlungen wurden trotzdem gebaut, das Land wurde zerstückelt, die Menschen können sich nicht mehr frei bewegen. Wo bleibt da die Hoffnung? Da musste es zu dem Punkt kommen, wo alles explodiert.

Damit schlagen Sie sich auf die Seite der Selbstmordattentäter?

Die Selbstmordattentäter sind ganz normale Palästinenser. Ich möchte zeigen, was für ein Leben die Menschen dort führen. Es reicht nicht, die Symptome des Konflikts zu betrachten. Man muss an die Wurzeln gehen. Da ist es egal, ob auf der israelischen oder palästinensischen Seite.

Wie stehen Sie selbst zu den Attentaten?

Ich habe in diesem Buch klar kundgetan, dass Selbstmordattentate nicht politisch produktiv sind. Die Menschen in Palästina und Israel berufen sich zu wenig auf ihre Gemeinsamkeiten. Stattdessen betont man die Unterschiede. Man sagt, man will den Weg des Friedens gestalten. Das ist ein Fehler. Ich bin der Meinung, Frieden ist der Weg.

Ist das nicht ein wenig naiv?

Ich habe einen Traum: ein Kindergarten, in dem israelische und palästinensische Kinder miteinander spielen. Kinder sind naiv. Aus dieser Naivität heraus können sie den Neuanfang wagen. Ich selbst benutze Naivität, um neutral zu bleiben und zu sagen: Es gibt einen Weg!

Wie haben Sie Ihren Gesprächspartner gefunden?

Ich bin nach Dschenin im Westjordanland gereist. Dort habe ich Freunde und Verwandte. Ich kenne das Flüchtlingslager seit der Zeit, als ich ein kleiner Junge war. Es hat lange gedauert, bis ich die Leute von meiner Idee überzeugen konnte. Am Anfang gab es ein striktes Nein. Ich habe Dschamal, meinen Ansprechpartner vom Dschihad al-Islami, unentwegt bequatscht. Nach einigen Tagen hatte man sich anscheinend zusammengesetzt und darüber gesprochen. Dschamal kam auf mich zu und sagte, okay, aber nur unter bestimmten Bedingungen: Die Anonymität muss gewahrt bleiben. Und ich habe zu befolgen, was sie mir sagen.

Besteht nicht die Gefahr, zum Sprachrohr zu werden?

Wenn du das Psychogramm eines Menschen erstellst, also aufzeigst, was für eine Kindheit und Jugend er hatte und wie sein Umfeld ihn konsequent dahin führt, wo er heute ist, sympathisiert man dann gleich mit ihm? Oder ist es nicht vielmehr ein Versuch zu verstehen, was einen Menschen antreibt, das zu tun?

Was sind nun die Beweggründe der Selbstmordattentäter?

Es ist kein Klischee, dass die Hamas den Selbstmordattentätern ein zweites Leben im Paradies verspricht, viele Jungfrauen und den Eingang in die Geschichte als Märtyrer. Für die Familie des Verstorbenen bedeutet das viel Ruhm. Religiöse oder idealistische Motive stehen aber nicht im Vordergrund. Es ist oft einfach der letzte Ausweg. Sie fragen, wie kann ich sonst einer Planierraupe oder einem Panzer gegenübertreten? Das Einzige, was sie haben, ist ihr Körper.

Wie verläuft die Ausbildung zum Selbstmordattentäter?

Es gibt zwei Organisationen, die die meisten Selbstmordattentate zu verantworten haben: die Hamas und der Dschihad al-Islami. Die unterscheiden sich völlig. Die Hamas ist eine straff organisierte Gruppe, die ihre Attentate akribisch plant. Sie verkleiden die Attentäter zum Beispiel als orthodoxe Juden, schulen sie in Hebräisch usw. Sie versuchen mit einem Attentat so viele Opfer wie möglich zu treffen. Was die Attentäter angeht, sind sie wählerisch. Die ältesten Söhne einer Familie werden zum Beispiel nicht herangezogen, weil sie die Familie unterhalten müssen. Es dürfen auch keine persönlichen Motive beim Kandidaten vorliegen. Es muss eine Überzeugungstat sein. Beim Dschihad al-Islami wird auf so was nicht viel Wert gelegt. Die nehmen mehr oder weniger jeden. Die Leute werden mit einer Art Mutprobe vorbereitet und müssen sich zur Verfügung halten. Ein Anruf kommt, und los geht’s.

Wie liefen Ihre Gespräche mit dem Selbstmordattentäter?

Ich wurde jeden Tag abgeholt, und dann sind wir ins Flüchtlingslager gefahren. Dort wurde ich an einer Haustür abgeliefert. Die Apache-Hubschrauber kreisten über dem Lager, und ein paar Kilometer entfernt standen an die 60 Panzer in Stellung. Jeden Moment hätten die Israelis einmarschieren können. Natürlich hat man Angst. Aber die ist im Laufe meiner Gespräche mit Said gewichen. Er war ein normaler Mensch, wie du und ich, er arbeitete eben im Untergrund.

Haben Sie versucht, ihn von seiner Tat abzuhalten?

Nein, ich bekehre nicht. Wir haben diskutiert. Ich habe im Koran Belege gefunden, die meiner Meinung nach gegen die Selbstmordattentate sprechen. Ich war aber auch immer wieder mit dem Argument konfrontiert: „Du bist ein Palästinenser mit Privilegien, du lebst mit deutschem Pass in Deutschland. Du hast gut reden!“ Was soll ich da sagen? Ich habe immer die Option, wieder nach Deutschland zurückzukehren.

Mit den Selbstmordattentaten haben sich die Palästinenser viele Sympathien verspielt. Wie sehen Sie die Nahost-Debatte in Deutschland?

Die Leute, mit denen ich spreche, differenzieren schon zwischen Selbstmordattentätern und der normalen Bevölkerung. Der Konflikt aber rückt wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein. Die Selbstmordattentate haben keinen Neuigkeitswert mehr. Wann hört man davon noch in deutschen Medien?

Was ist aus Said geworden?

Als die israelische Armee am 2. April diesen Jahres mit starken Truppen und Planierraupen ins Flüchtlingslager eingerückt ist, kam es zu Kampfhandlungen zwischen bewaffneten Palästinensern und Israelis. Dabei wurde er erschossen.