Ich weine, also bin ich

Das Kino ist einer der wenigen öffentlichen Orte, an denen wir weinen dürfen. Dabei ergeht es uns wie der Hauptfigur in David Finchers „Fight Club“: Wir spüren uns selbst im Leid der anderen. Was aber geschieht, wenn uns die Ironie dazwischenfunkt? Gibt es ein Pathos, das ihr die Stirn bieten kann?

von SEBASTIAN DETERDING

Die Frage ist ja nicht, warum wir im Kino weinen, sondern warum wir es gerne tun. Schließlich geschieht es mit Absicht. Wir wussten es vorher, wir zahlten dafür. Suchen wir die süße, schläfrige Entspannung, mit der wir aus der Dunkelheit tapsen? Das aufgeräumte Gefühl, schwebend und warm und gar nicht richtig da zu sein, nachdem der Brustkorb sich geschnürt und gegen Kehle und Augenhöhlen gedrückt hat, um sich endlich stoßweise zu lösen?

Oder sind es die gravitätischen Griechen: Mitleid und Schrecken? Wo es um die Erklärung der Tränen geht, erfreut sich Aristoteles ungebrochener Beliebtheit. Ihm zufolge stecken wir voller unsinniger Gefühle und benötigen regelmäßig eine „Reinigung von derartigen Erregungszuständen“. Für Hippokrates waren Tränen überschießende Säfte aus dem Hirn. Und in seinen Studien über Hysterie ist Freud ein eifriger Schüler der Katharsis-Theorie. Heute schwören Psychotherapeuten auf das Aufspüren und Freilassen unterdrückter Gefühle als Universallösungsmittel für Traumata, Charakterpanzer, falsches Selbst. Ihre Sprache ist verführerisch: Es wird abgelassen, was sich aufgestaut hat – als spräche unser Körper in Metaphern, als sonderten wir ein beständiges Rinnsal von Gefühlen in unsere Hirnkammern ab. Gefühle, die zu Karfunkeln verkrusten und aufs Gemüt drücken. Dann schleppen wir unsere Seelen ins Kino wie pralle Blasen zum Pissoir.

Dieser Text vertritt das Gegenteil. Tränen leeren nichts (vielleicht haben sie das früher getan), sie füllen eine Leere. Das Leben gibt es heute portionsweise eingeschweißt an der Tiefkühltheke, ein Convenience-Produkt, jeder materiellen Schwere, jeder Klarheit, aller Höhen und Tiefen beraubt wie ein schlecht gesampelter mp3-Track. Wo waren sie noch: Jammer und Schaudern, Liebe und Tod – das große pathetische Ding namens „Leben“? „Das Lebensziel ist verfehlt“, schreibt Michel Houellebecq in „Ausweitung der Kampfzone“. „Es ist zwei Uhr nachmittags.“ Was fangen wir nur mit dem angebrochenen Tag an?

Wie wär’s mit Kino? 1999 lief dort David Finchers „Fight Club“. Der Erzähler-Protagonist (Edward Norton), blässlich wie namenlos, arbeitet als Koordinator für Rückrufaktionen bei einem Automobilkonzern. Seine Arbeit hält keinen moralischen Wert, keine Siege oder Erschöpfungen bereit. Er hat keine Beziehungen außer den Einweg-Bekanntschaften seiner Geschäftsflüge. Er ist der Prototyp des flexiblen Menschen, ein Mann ohne Eigenschaften, die Leere in Person. Und er kann nicht schlafen: „Alles ist so weit weg, die Kopie einer Kopie einer Kopie. Mit dem Abstand der Schlaflosigkeit kannst du nichts berühren, und nichts kann dich berühren.“

Der Schmerz der anderen

Er konsultiert einen Arzt. Der sagt: Wenn er wissen wolle, was echtes Leid ist, solle er zu den Selbsthilfegruppen gehen, zu den Aids- und Krebskranken, zu den Traumatisierten. Er will. Denn das Elend der anderen, das therapeutische Gruppenumarmen am Ende eines Gesprächskreises anonymer Hodenkrebspatienten sind seine Erlösung. In der stickigen Dunkelheit eines Fleischklopses, der seine Arme um ihn schlingt, bricht er in Tränen aus und fällt noch am selben Abend in tiefen Schlaf. Unter falschem Namen schleicht er sich von da an täglich in Selbsthilfegruppen. Erfrischt und lebendig verlässt er die Heulorgien. Das Leid und das Weinen besitzen alles, was der Leere fehlt: Eindeutigkeit, Echtheit, Körper, Gefühl. Wir suchen die Tränen, weil sie nicht Ersatz von etwas sind, sondern die Sache selbst.

Was sind wir Kinogänger anderes als Elendstouristen? Wenn wir mit Rose aus „Titanic“, mit Scarlett aus „Vom Winde verweht“ mitweinen, ergötzen wir uns an einem Schmerz, der nicht uns gehört. Das ist so intensiv und eindeutig, wie wir es im eigenen Leben niemals fühlen werden (das meinen wir zumindest). So schöne große Gefühle. Wie die Selbsthilfegruppe ist das Kino einer jener anonymen Orte, wo wir öffentlich weinen dürfen.

Wie in der Selbsthilfegruppe gebe ich kurzfristig kontrolliert die Selbstkontrolle auf, die mich sonst von der Intensität meines Körpers abschneidet. Die Dunkelheit des Kinosaals, die alle Blicke auf die Leinwand leitet, lässt mich allein in einer Gebärmutter aus rotem Plüsch versinken. Für die nächsten zwei Stunden muss ich nichts tun, niemand wird mich ansprechen oder beobachten.

Alles könnte so einfach sein, abends, halb zehn in der Moderne: mal Pause machen, die Contenance ablegen, das Elend der Welt beschauen und kräftig heulen. Doch leider erkennt der Erzähler-Protagonist von „Fight Club“ plötzlich eine weitere Elendstouristin, und die Tränen versiegen. Ihre Anwesenheit in der Selbsthilfegruppe hat dieselbe Wirkung, die das grelle Saallicht im Kino hätte (versuchen Sie mal, im Kino zu weinen, während der Sitznachbar Sie anstiert). Wir können nicht weinen, wenn diese kleine Stimme im Hinterkopf mahnt: „Das ist nicht echt.“ Sobald dieses Bewusstsein da ist, funktioniert das Spiel aus Identifikation, Mitleid und Herzensfülle nicht mehr.

Aber genau diese Selbstbeobachtung lässt sich kaum noch abstellen. Was wir auch sehen oder fühlen: Wir kennen es längst als Klischee. Was wir auch sagen, wurde schon gesagt und wird wieder gesagt werden. Bevor das Leben uns enttäuscht, haben wir uns vorsorglich in die Position des immer schon Enttäuschten begeben. Ironie und Selbstreferenz sind unsere Strategien geworden, um mit Zuständen der Leere, Uneindeutigkeit und Beliebigkeit umzugehen. Doch Ironie nährt selber die Leere, deren Schmerz sie lindert. Sie dämpft das Empfinden, indem sie uns in eine gleichweite, gleichgültige Distanz zu allem rückt. Ironie ist cool. Doch hinter der Sonnenbrille driften wir langsam in die Verzweiflung.

Schlag mich!

Den Erzähler-Protagonisten von „Fight Club“ treibt sie eines Nachts in eine grundlose Schlägerei, und er erlebt eine Epiphanie. „Es tut wirklich weh! Schlag mich noch mal.“ Passanten schlagen bald darauf mit ein. Nach kurzer Zeit gründen sie den ersten Fight Club: Kein Gerede, sie tun etwas, sie fühlen etwas – was, das ist Nebensache.

Alles, was wir wollen, ist ein eindeutiges Gefühl, ein unmissverständliches Zeichen. Auf der Jagd danach sind wir bereit, wahlweise uns – wie in „Fight Club“ – oder andere – wie in „American Psycho“ – zu verstümmeln. Im Schmerz hat man das letzte, selbstidentische und feste Zeichen entdeckt: Zweimal erkennt der Erzähler-Protagonist von „Fight Club“ voller Erstaunen sein eigenes Gesicht: im Tränenabdruck auf dem T-Shirt des Umarmten und im Blutabdruck auf dem Boden des Fight Club. Hier jedoch stößt der Film an seine Grenzen. Notgedrungen bleiben wir vor der Leinwand zurück, Zuschauer fremden Schmerzes.

Wo „Fight Club“, „American Psycho“ oder die MTV-Sendung „Jackass“ aufhören, setzt Paul Thomas Andersons Film „Magnolia“ (1999) an. „Magnolia“ ist alles andere als cool. Der Film verknüpft die Lebensgeschichten von zwölf Menschen in Los Angeles und führt jeden an einen Punkt tränenreicher Katharsis. Alle zwölf leiden: Da ist der Todkranke auf dem Sterbebett, der sein Leben bereut und sich mit seinem Sohn aussöhnen will; da ist der Mann, der sein Leben verfahren hat, das gedemütigte Wunderkind, das um die Liebe seines Vaters kämpft; da ist die missbrauchte Tochter, drogenabhängig und voller Zorn, scheinbar zu keiner Beziehung in der Lage, der einsame rechtschaffene Polizist, das schwarze Straßenkind. Alle befinden sich in ernsten Situationen, sind konfrontiert mit der Schutzlosigkeit eines Beziehungsversuchs, mit der öffentlichen Demütigung, dem Scheitern, der Reue, dem Tod. Und alle weinen. In keinem Kinofilm der letzten Jahre ist so viel geweint worden wie in „Magnolia“. Ohne Unterschied zwischen den Geschlechtern, auf und vor der Leinwand.

Anderson wagt das Pathos, fällt dabei aber nicht in die Kitschglut der Sonnenuntergänge und brennenden Landsitze zurück, sondern setzt es in den Kontext der Ironie. Das Pathos antwortet auf die scheinbare Unausweichlichkeit der Ironie im Zeitalter der Simulation. Zum Beispiel wenn Phil Parma (Philip Seymour Hoffman), der Pfleger des todkranken Earl Partridge (Jason Robars), über eine TV-Hotline an die Nummer von Partridges Sohn gelangen will: „Ich weiß, das klingt unsinnig, und ich weiß, ich mache mich lächerlich, als wenn das ’ne Szene im Film wäre, wo sie endlich den verschwunden Sohn finden. Schon klar, aber das ist diese Szene. Ich denke, dass es im Film solche Szenen geben muss, weil sie wahr sind. Bitte, sehen Sie: Das hier ist die Szene im Film, wo sie mir helfen.“ Natürlich – ironisch – ist sie das dann wirklich.

Das fühlt sich gut an

„Magnolia“ bleibt dabei nicht stehen, die eigene Gemachtheit bewusst und verdächtig zu machen. „Magnolia“ sagt: Ich weiß, dass ich „nur ein Film“ bin, und ich kann das nicht ignorieren. Ich versuche trotzdem, etwas über die Wirklichkeit zu sagen. Diese Dinge passieren nun mal wirklich, trotz aller Inszenierung, obwohl wir sie tausendmal im Film gesehen haben.

Gegen das ermüdende postmoderne Spiel, das nur in Rahmen und Brüchen sprechen kann, bietet „Magnolia“ so etwas wie einen neuen Gesellschaftsvertrag der Aufrichtigkeit. Bei ihrem ersten Date schlägt Claudia, die Drogenabhängige (Melora Waters), dem Polizisten Jim (John C. Reilly) eine Abmachung vor: „Was ich gerade gesagt habe, dass Menschen nicht den Mut haben, Dinge zu sagen, die wahr sind oder so …“ „Ja?“ „Dass wir das nicht tun, obwohl wir es sonst tun würden. Ich werde Ihnen alles erzählen, und Sie werden mir alles erzählen.“ Dann verschwindet sie kurz auf der Toilette. Auf dem Rückweg küsst sie ihn auf die Wange, setzt sich rasch und sagt unsicher, lächelnd: „Ich wollte das tun. Das fühlte sich gut an, zu tun, was ich tun wollte.“ Und er sagt lächelnd, ein wenig erschüttert: „Ja.“

Eine ausführliche Fassung dieses Textes erscheint unter www.nachdemfilm.de. Das Internetmagazin stellt sich heute Abend in Berlin vor (20 Uhr, Staatsbank, Französische Straße 35)