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Mütterchen zählt ihre Kinder

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Den Auftakt machten Wladimir Putin und Gattin Ludmila in spartanischem Ambiente vor hellbraunem Lacktisch und dunklen Vorhängen. Der Präsident arbeitet „im Staatsdienst“ und lebt von seinem „Gehalt“, erfuhr der Fernsehzuschauer. Ludmila zeigte sich bewusst unbescheiden und gab zu Protokoll, „drei Fremdsprachen zu beherrschen“.

Gestern ging Russlands einwöchige Volkszählung zu Ende – eine Zitterpartie für den Riesenstab von Beamten, die den Erfolg des Zensus von Kaliningrads Plattensiedlungen bis in die arktischen Iglus zu garantieren hatten. Das Unternehmen kostet den Staat nach groben Schätzungen umgerechnet 600 Millionen Euro. Seit der letzten Erhebung 1989 durchläuft das Land eine epochale Transformation, die die Lebensverhältnisse und Gewohnheiten der Bürger noch immer radikalen Veränderungen unterwirft. Sinn und Zweck des Unternehmens bedurften daher keiner tieferen Begründung.

Nicht alle Bürger sind unterdessen einsichtig. Verweigern mehr als zehn Prozent die Teilnahme am Zensus, sind die Ergebnisse nicht mehr brauchbar. Die Russen fürchten nicht etwa, durch Preisgabe persönlicher Daten zum gläsernen Menschen zu werden. Das gilt eher als zivilisatorischer Schnickschnack. Mancher fürchtet jedoch, im Schlepptau der jungen studentischen Volkszähler folge der Finanzbeamte. Denn die Mehrheit zahlt entweder gar keine Steuern oder nicht den vollen Betrag.

Ob Reich oder Arm, alle hegen die gleichen Bedenken. Und wie schon vermutet, stießen die Volkszähler bei den rund sechs Prozent Superreichen auf besondere Hindernisse. Tagelang versuchten einige über Mauern, Gräben und Zäune, vorbei an Wachpersonal und scharfen Hunden, auf die Latifundien vorzustoßen. Die Elite traut ihresgleichen am wenigsten.

Der Staat garantierte Anonymität und versprach auch, ein Abgleich der Daten zwischen Behörden sei nicht vorgesehen. Alexander Minkin vom Boulevardblatt Moskowkij Komsomolez kommentierte, stellvertretend für Volkes Stimme: „Da wir nun mal in Russland leben, wird auch kein Geheimnis gewahrt. Schon bald tauchen Disketten mit den Ergebnissen, Namen und Adressen auf dem Markt auf.“ Daten, mit denen niemand etwas anfangen könne – außer Wahlkampfstäben …

Noch ist nicht klar, ob die kritische Marke von zehn Prozent unterschritten wurde. Proteste und Boykotterklärungen gab es aber zuhauf: Der Bürger weiß, dass der Bürokratie ein Erfolg von Zensus und Wahlen außerordentlich wichtig ist. Folglich droht er mit Boykott, sollten seine Forderungen nicht endlich berücksichtigt werden. Sei es nun ein leckes Dach, die Rentennachzahlung oder, wie im besseren Moskauer Wohnviertel Krylatskoe, der Streit um einen Neubau für Kreml-Apparatschiks, der die Häuser der Anwohner buchstäblich in den Schatten stellt.

Im Verwaltungsgebiet Pskow weigerten sich Dorfbewohner, die Zähler zu empfangen, weil sie sie nicht kannten. Sie verlangten nach den Gesichtern aus der landesweiten Werbung der Volkserhebung: „Schreib auch du Geschichte“.

Endgültige Ergebnisse liegen erst im nächsten Jahr vor. Eine Ausnahme macht Tschetschenien. Dort wollen die Volkszähler 1.088.000 Einwohner ermittelt haben. 1989 in besten Zeiten lebten in der Doppelrepublik Tschetscheno -Inguschetien unterdessen 1.300.000 Menschen. Nach zehn Jahren Krieg, Genozid und Vertreibung ein erstaunliches Ergebnis – die moskautreue Verwaltung begründet es mit der höheren Geburtenfreudigkeit der Tschetschenin, auf die im Schnitt fünf Kinder entfallen. Wahrscheinlicher ist, dass der russische Generalstab die Erhebungsbögen mit ausgewertet hat.

Die Nationalitätenfrage erwies sich auch zwölf Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als ein heikles Thema. Besonders in Tatarstan, das sich eine gewisse Autonomie vom Zentrum ertrotzen konnte. In der Hauptstadt Kasan tat die Regierung so, als ginge es um Sein oder Nichtsein. Sollten sich weniger als 50 Prozent der Bevölkerung zum Tatarentum bekennen, fürchtete Kasan, werde Moskau demnächst auch Stück für Stück die Sonderrechte einholen. Man war dort beim Studium der im Bogen aufgeführten Nationalitäten stutzig geworden. Außer „Tatare“ enthielt die Liste noch drei andere „Ethnien“, die die Tataren indes ihrem Stamm zurechnen. Was steckte dahinter? Pedanterie Moskauer Ethnologen? Oder doch die Perfidie der Macht?

Keinen Wert auf Klarheit legte unterdessen die russisch-orthodoxe Kirche, die den Anspruch erhebt, Staatsreligion zu sein. Sie sorgte im letzten Moment dafür, dass die Frage nach der Religionszugehörigkeit gestrichen wurde. Aus Furcht, anderen Religionsgemeinschaften und der Masse von Atheisten unterlegen zu sein.

Die zentrale Frage war indes: Wird demnächst auch das große Volk der Russen auf dem Index der bedrohten Völker stehen? Wie viel sind es noch? 145, 140 oder 135 Millionen? Die Diskussion über den Bevölkerungsschwund nahm in den letzten Jahren manchmal hysterische Züge an. Im Bericht zur Lage der Nation im letzten Jahr mahnte Präsident Putin, das Land schrumpfe jährlich um 750.000 Menschen, bis 2013 sinke die Bevölkerung auf 123 Millionen. Putin erklärte Pflege und Auffrischung des Humanbestands kurzerhand zur Chefsache. Politclown Schirinowski eilte dem Kreml sogleich zu Hilfe und schnürte in der Duma ein vom Notstand diktiertes Maßnahmenbündel: Zehn Jahre sollten Abtreibungen verboten werden und Frauen im gebärfähigen Alter das Land nicht mehr verlassen.

Seit 1992 ist die Population in Russland rückläufig. Mit der schwierigen sozialen Lage lässt sich der Geburtenrückgang nicht allein erklären. Gerade die entwickeltsten Länder Europas beobachten seit einem Jahrzehnt den gleichen Trend. Russland schließt also auf. Mit 1,24 Kindern sorgt die Russin im Schnitt noch für mehr Nachwuchs als die Italienerin, Spanierin oder Deutsche. Nach neuesten Zahlen liegt die Geburtenrate 2001 sogar um fast zehn Prozent über der von 1991. Die jüngere Generation achtet inzwischen mehr auf Bildung, Beruf und Geldverdienen.

Der Ethnologe Waleri Tischkow weist zudem auf eine Besonderheit der russischen Datenerhebung vor der Volkszählung hin: Im Unterschied zu Westeuropa wurden Immigrantenkinder aus den früheren Republiken der Sowjetunion – darunter auch ethnische Russen – in die Statistik nicht mit eingerechnet. Meist besitzen deren Eltern keinen russischen Pass, wurden nicht registriert oder meiden die Registrierung, weil sie sich vor bürokratischer Willkür fürchten.

Aufrütteln müsste die Verantwortlichen ein anderes Übel: Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes liegt bei 62 Jahren, Frauen halten zehn Jahre länger durch. Auch die Sterblichkeitsrate ist katastrophal: Sterben von 10.000 Einwohnern 5 pro Jahr in Deutschland, bricht Russland mit 64 Todesfällen alle Rekorde. Sergei Sacharow vom Institut für Ökologie des Menschen meint: Kriege, Hungersnöte, Bürgerkriege und Repressionen im 20. Jahrhundert forderten nicht nur einen ungeheuren Blutzoll – wer in solche Zeiten hineingeboren wurde, startete auch mit einer schweren gesundheitlichen Hypothek. Zurzeit treten diese Jahrgänge verstärkt ab. Hinzu kommt: Die UdSSR investierte wenig in ihr Gesundheitswesen, in den 80er-Jahren ein Viertel dessen, was im Westen ausgegeben wurde. Auf eine Feststellung legt Sacharow besonderen Wert: Die haarsträubenden Daten haben nichts mit den Reformen oder einer schlechteren medizinischen Versorgung zu tun. Lehrer, Ärzte, Professoren und Wissenschaftler, die gemeinhin als Verlierer des Umbruchs gelten, erreichen fast das Alter ihrer westlichen Kollegen.

Seit fünfzig Jahren treibt ein und dieselbe soziale Schicht die Sterblichkeit in die Höhe: Männer im arbeitsfähigen Alter (25 bis 55 Jahre) ohne weiterführende Bildung. Zwei Drittel der Todesfälle gehen auf äußere Faktoren zurück. Mord, Verkehrsunfälle, Alkoholvergiftung oder Selbstmord. Immer ist Alkohol im Spiel.

Gezielte Aufklärung würde die Statistik sicherlich verbessern. Doch das ist schwierig in einem Land, das sechsprozentiges Bier zu nichtalkoholischen Getränken zählt und Trunkenheit und Dämmerzustand den Rang eines identitätsstiftenden und staatstragenden dionysischen Kultes genießen. Der Wodka ist die Essenz des Andersseins, ein flüssiger Antirationalismus. Ein Geist aus der Flasche, der statt Kindern den russischen Mythos immer neu gebiert.

Der Kreml steht vor einem Dilemma, mit oder ohne Zensus. Die Volksgesundheit verlangt, dem angesäuselten Dauerzustand Einhalt zu gebieten. Das kostet indes Wähler und Vertrauen. Michail Gorbatschow hat es in den 80er-Jahren versucht und bitter dafür bezahlt. Wladimir Putin, der die nationale Wiedergeburt offensiv zum Programm erhob und als Hoffnungsträger gilt, wäre dagegen auch nicht gefeit. Bleibt der Geist erst in der Flasche, kommt die russische Idee nüchtern daher.

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