Rot-Grün eingelocht

DGB stellt Wachstumsprognose des Finanzministers für 2003 in Frage. Eichel gibt überraschend höheres Haushaltsdefizit zu. Opposition spricht von „Wahlbetrug“. EU plant Strafverfahren

BERLIN taz ■ Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) stellt die Wachstumsprognose der Bundesregierung für 2003 in Frage. „Ich bin sehr skeptisch, ob das Wachstum 1,5 Prozent erreichen wird“, sagte Wolfgang Scheremet, Chefvolkswirt des DGB, der taz. Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) hatte die Prognose der Bundesregierung für das kommende Jahr kürzlich auf 1,5 Prozent gesenkt und dabei deutlich gemacht, dass es sich um eine solide Vorhersage handele.

Chefvolkswirt Scheremet rechnet mit geringerem Wachstum, weil die Weltwirtschaft insgesamt keine Impulse gebe. Außerdem halte die Europäische Zentralbank die Zinsen für den Euro auf einem zu hohen Niveau. Mit der schwächeren Konjunktur stünde die gesamte Finanzplanung für 2003 in Frage, die Rot-Grün erst am vergangenen Montag beschlossen hatte.

Doch die bisherigen Aussagen der Koalition zum Bundeshaushalt sind seit gestern sowieso hinfällig: Überraschend räumte Bundesfinanzminister Hans Eichel in einem Fernsehinterview ein, dass das diesjährige Defizit in den öffentlichen Haushalten höher ausfällt als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Diese Obergrenze schreibt der Euro-Stabilitätspakt eigentlich zwingend vor.

Laut Eichel fallen die neuesten Steuerschätzungen weit niedriger aus als erwartet. Die Steuereinnahmen des Bundes fielen in den ersten neun Monaten dieses Jahres vier Prozent niedriger aus als im Vorjahr, meldet die Nachrichtenagentur dpa. Wie aus der Regierungskoalition zu hören war, wird ein Nachtragshaushalt für das Jahr 2002 vorbereitet, der zusätzliche Schulden in Höhe der Steuerausfälle von maximal 14 Milliarden Euro enthalte. Die Opposition warf Rot-Grün daraufhin „Wahlbetrug“ vor. CSU-Landesgruppenchef Michael Glos sagte, Eichel habe schon vor der Wahl gewusst, wie schlecht es um die öffentlichen Finanzen stehe.

Weil Deutschland mit dem höheren Defizit den Vertrag von Maastricht verletzt, hat EU-Währungskommissar Pedro Solbes ein Strafverfahren angekündigt.

Über die Sinnhaftigkeit des Defizitpaktes gibt es mittlerweile unterschiedliche Ansichten. Romano Prodi, Präsident der EU-Kommission, bezeichnete den Pakt – über dessen Einhaltung er eigentlich wachen soll – gestern überraschend als „dumm“, weil er zu „starr“ sei. Der Würzburger Wirtschaftsprofessor und Euroexperte Peter Bofinger fordert im taz-Interview einen „Stabilitätspakt II“. Dieser müsse den nationalen Regierungen mehr Handlungsspielraum bei der Haushaltspolitik einräumen. Damit wäre es Deutschland erlaubt, in wirtschaftlich schwachen Zeiten die Konjunktur anzukurbeln – etwa über Steuersenkungen. Der derzeitige, „zu starre“ Pakt sei für die Stabilität des Euro nicht mehr notwendig, so Bofinger. HANNES KOCH

KATHARINA KOUFEN

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