Die ewige Neugier

Was haben goldene Rodeokühe, Vanillepudding und ein Koffer in Berlin mit der Schweiz zu tun? Viel, erstaundlich viel. Eine Liebeserklärung

von KATHRIN REBSAMEN

Zufälle, sagt man, gibt es nicht. Zwölf Jahre lang war ich Auslandsschweizerin. Zwar bin ich immer wieder in die Schweiz gefahren. Zur Familie. Zu Freunden. Sogar mal zum Praktikum. Und zum Skifahren, mindestens einmal im Winter. Aber dort leben kam für mich nicht in Frage. Die Schweiz war einfach zu klein. Angenehm, vielsprachig, multikulti, ästhetisch und alles. Aber zu klein. Doch dann kam die Expo.

Hierzu muss man wissen, die Schweiz ist das einzige Land, das sich den Luxus leistet, sich knapp alle vierzig Jahre in Form einer Landesausstellung selbst darzustellen. Im Gegensatz zu High-Tech-Weltausstellungen wie der Expo 2000 in Hannover stellt das Schweizer Modell keine nationalen Statistiken oder Wirtschaftsergebnisse dar, sondern hat den Ehrgeiz, die Seele und den Zeitgeist der aktuellen Generation einzufangen. Und in dieser Seele habe ich vollkommen unerwartet meine eigene gespiegelt gefunden.

Es fing wohl damit an, dass ich ein Bild der Wolke entdeckte. Ausgerechnet in einer deutschen Zeitung. Die Wolke ist das architektonische Merkmal der Arteplage von Yverdon-les-Bains, einem der vier Schauplätze der Expo.02. Für mich verkörpert sie eine Art Realität gewordenen Traum. Dass eine Nation es wagt, sich mit etwas so Ätherischem der Welt vorzustellen, beeindruckte mich. Diese Wolke machte mich neugierig. Wann kann man schon eine Wolke betreten? Oder anfassen? Oder einatmen? Verrückte Schweizer.

Ende Mai, ein paar Tage nach der Eröffnungsfeier, sitze ich dann in einem überdimensionierten Einkaufswagen auf einer Reise durch eine imaginäre Schweiz.

Ganz im Stil einer Geisterbahn führt mich Strangers in Paradise im „Migros-Wägeli“ an einer ausgestopften Kuh, an Goldbarren oder anderen Emblemen und Symbolen der blitzblanken Helvetia vorbei, durch eine blühende Heidi-Landschaft bis tief hinunter in düstere Kelleretagen, die für einen typischen, wenn auch unangenehmeren Aspekt der Eidgenossenschaft stehen, ihre schmutzigen Geldgeschäfte wie ihre sauber versteckte Armut. Eine Schweiztour im Zeitraffer – wie gemacht für mich als Ein- oder Aussteigerin.

Ich muss zugeben: Im Laufe der Jahre meiner Schweizlosigkeit habe ich einen kleinen Tick für landestypische folkloristische Objekte entwickelt. Vor allem Kühe haben es mir angetan. Außerdem überfällt mich noch immer regelmäßig ein heimeliges Gefühl, wenn ich die Schweizer Fahne irgendwo wehen sehe. Bei der S-Bahn-Fahrt zwischen Lehrter Stadtbahnhof und Friedrichstraße zum Beispiel. Jedes Mal erfreue ich mich erneut am Anblick der roten Flagge mit weißem Kreuz der Schweizer Botschaft inmitten der imposanten Bauten der Bundesregierung. Es hat so etwas Beruhigendes. Und ebendieses Gefühl überkommt mich nun viel intensiver inmitten der geballten Expo-Aussagekraft.

Ich hoffe sehr, der Name dieses Pavillons ist Programm, denn hier fängt in gewisser Weise alles an, der Anfang meiner Rückkehr in die Schweiz, das Ende meines Auslandsschweizer-Daseins. Happy End – das sind sieben Stationen in einem großen, roten Würfel, die mich auf eine Entdeckungstour des Glücks führen. Und letztendlich die zunehmende Begeisterung für meine Heimat ankurbeln.

Ganz nach dem Motto „Scherben bringen Glück“ werde ich an der ersten Happy-End-Etappe aufgefordert, mit einem dicken Filzstift einen Porzellanteller zu beschriften. Gesucht wird: ein persönliches Glückshindernis. Was steht der eigenen Erfüllung im Weg? Nachdenken. Aufschreiben. Dann soll ich meinen Teller wie eine Frisbeescheibe gegen eine mit feinster Spitze verzierte Wand schmettern. Päng, klirr! Um mich herum viele Schweizer, die allesamt fröhlich an ihrer Expo teilnehmen. Und mit mir schlechtes Karma an die Wand donnern.

Eine intensive körperliche Erfahrung erwartet mich nur ein paar Räume weiter. In Form einer goldenen Rodeokuh. Zuerst klammere ich mich etwas verkrampft mit beiden Händen an dem Gefährt fest, doch dann heizen mich Zuschauer an, einhändig in authentischer Cowboymanier zu reiten. Das Ding schüttelt mich total durch, für einen Moment überkommt mich ein Cowgirlgefühl, und plötzlich bekomme ich einen Lachanfall. Alles in mir und alle meine Sinne werden auf dem Rindvieh wachgerüttelt. Ich steige herunter, schaue in grinsende Gesichter und merke, dass ich selbst von einem Ohr bis zum anderen strahle. Nach Scherbenglück und Bullenreiten führen mich riesige Rutschen aus diesem Pavillon raus in Richtung Happy End, hinaus ins Expo-Geschehen. Dabei hat mein Besuch gerade erst begonnen.

sWISH ist die Abkürzung für Swiss Wishes. Auch hier geht es ums Glück. Videoaufnahmen zeigen Interviews mit einer breiten Palette von Schweizern. Die meisten meiner Landsleute wünschen sich Südsee, Liebe oder Gesundheit. Der Sechser im Lotto kommt auch häufiger vor. Ich kann den Gedanken nicht verdrängen, dass sich manch ein Südseebewohner sicherlich umgekehrt ein Leben in der wohlhabenden, wenn auch nicht so sonnigen Schweiz wünschen würde.

Und eine Auslandsschweizerin? Berühmt sein kommt noch öfter vor. Mehr lachen auch. Frauen sprechen vom Kinderkriegen. Letztlich bilden diese vielen einzelnen Versuche, die eigene Vision von Glück zu definieren, etwas extrem Universelles. Banal und poetisch zugleich. Und plötzlich steh ich da und frage mich: Was macht dich wirklich glücklich?

Gerade fühle ich mich jedenfalls überglücklich. In meinem Element. Ist es das Wasser der Seen, auf das der Blick zwischen den Pavillonbesuchen unweigerlich fällt? Sind es die Sinne, die, angeregt, einen Blick nach innen gewähren, wofür es schon länger keine Zeit mehr gab? Oder ist es gleich die ganze Schweiz, deren Bewohner sich mehr Sonne und Offenheit wünschen, aber denen vielleicht nur die Distanz fehlt, um zu sehen, wie gut sie es haben und dass ihre Wünsche vor der eigenen Haustür fast immer Wirklichkeit werden können?

Mich überkommt Sehnsucht. Könnte die Nähe zur Schweiz eine Basis für mein persönliches Glück darstellen? Irritierend.

Wenn ich mir das genauer überlege – Schweizern fehlt im Ausland immer etwas. Ich fühle mich schon all die Jahre unvollkommen. In Frankreich fehlt mir die Tiefe der Deutschen, in Deutschland vermisse ich bis heute eine gewisse mediterrane Leichtigkeit, in Amerika erscheinen mir die Schweizer Berge erschreckend weit weg, in Italien …

Ich will nicht behaupten, die Schweiz sei das bessere Land. Aber in der Schweiz stellt sich für mich weniger die Frage des Entweder-oder, es gibt immer ein Sowohl-als-auch.

Auf der Expo.02 entdecke ich die kleine Schweiz plötzlich in ihrer ganzen Größe. Ein entscheidendes Element ist die selbstverständliche Vielsprachigkeit, mit der mir meine Landsleute begegnen. Temperamentvolle Tessiner treffen auf zurückhaltendere Deutschschweizer, trotzdem stellt sich nie die Frage, ob eins besser als das andere sei. Davon kann man im künstlich-wirtschaftlich vereinten Europa noch lange träumen. Toleranz und absolute Offenheit. Und ewige Neugier.

Hierbei ist das Dreiseenland das perfekte Terrain, um die eidgenössischen Sprachgrenzen einmal konkret zu erleben. In der Schweiz nennen wir diese Sprachgrenze den „Röstigraben“. Auf gewisse Art hat er viele Gemeinsamkeiten mit der Berliner Mauer: Fremde wissen nie ganz, wo der Graben verläuft, vor allem verstehen sie nur selten, welche Sprache in welcher Stadt gesprochen wird. Ist hier Ost oder West? Spricht man hier Schwyzerdütsch oder Französisch? Die eine Expo-Stadt Biel ist das beste Beispiel hierfür. Hier spricht man gleich beides.

Laut eidgenössischem Bundesrat sollte die Expo.02 „über die Sprachgrenzen hinweg den Zusammenhalt und den Zukunftsglauben des Landes an der Schwelle zum neuen Jahrhundert manifestieren“. Für mich sogar über die Landesgrenzen hinaus. Zufall oder nicht: Bis vor wenigen Wochen, bis zu meinen Tagen auf der Expo, bis zum Wiedersehen mit den Alpen, dachte ich, ich sei fest verankert in meinem Wahlberliner Leben. Aber jetzt pack ich meine sieben Sachen. Und lasse auch keinen Koffer in Berlin.

KATHRIN REBSAMEN, 33, in Düsseldorf geborene Genferin, lebt seit 1992 in Berlin. Sie ist Modedesignerin und Kommunikationswirtin, Übersetzerin, Illustratorin und Autorin