Es gab nichts, bloß das Leben

Thomas Geve hat Birkenau, Auschwitz und Buchenwald als Jugendlicher überlebt. Für einen Film kehrte er mit dem 13-jährigen Josua an die „Unorte“ seiner Vergangenheit zurück

Berlin, Gleisdreieck. Zwei U-Bahnlinien rattern ganz in der Nähe des ehemaligen Niemandslandes zwischen Ost und West vorbei. Das Gleisdreieck – auch heute noch ein trostloses Areal. Ein Mann mit grauen Haaren und wachen Augen steigt in die U 2 Richtung Pankow. Schon als kleiner Junge streunte der 72-Jährige hier herum: Thomas Geve, Bauingenieur aus Haifa. In Stettin als Sohn jüdischer Eltern geboren, in Berlin aufgewachsen, Überlebender der Shoa. Auf der flimmernden Leinwand sind die mächtigen Stahlkonstruktionen zu sehen, die seit 1902 die Berliner U-Bahn tragen. Geve sagt aus dem Off: „Das hat überlebt – die Steine und die Eisen.“

Das Gleisdreieck ist die erste Station auf der filmischen Reise zu den Orten seiner Vergangenheit. „Nichts als das Leben“ heißt der Film des Bremers Wilhelm Rösing, den gestern rund 100 Bremer Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 und 10 im Bürgerhaus Weserterrassen verfolgten.

Als Geve 1943 nach Auschwitz deportiert wurde, war er gerade 13, – ungefähr genauso alt wie Geves Counterpart im Film, der kleine Josua. „Haben Dir Freunde im KZ geholfen?“, „Wußtest Du, dass Du Deine Mutter nie mehr sehen würdest?“, will Josua von Geve im Film wissen. Es sind diese ganz einfachen Fragen, die die Dokumentation so authentisch machen.

Und Geve antwortet. Wie er 1942, nachdem er nicht mehr zur Schule gehen durfte, auf dem jüdischen Friedhof Gräber geschaufelt hat. „Drei Gräber täglich – ich war gerade einmal zwölf Jahre alt.“ Im Sommer 1943 wurde er über Birkenau ins KZ Auschwitz deportiert.

Im Film erscheint an dieser Stelle eine kindliche Zeichnung. Mit Buntstiften hat Geve direkt nach seiner Befreiung 1945 die Selektion an der Rampe von Auschwitz festgehalten. Hinten Viehwagen, vorne die Deportierten. SS-Schergen „sondern“ Kinder, Alte und Kranke von den „Arbeitsfähigen“ ab. Ihr letzter Weg in die Gaskammern beginnt.

Der 13-Jährige Geve hat Glück. „Ich war sehr groß für mein Alter. So wurde ich stattdessen ins Arbeitslager geschickt.“ Bis Januar 1945 leistete er Zwangsarbeit auf dem Bau. „Ich habe Fundamente ausgehoben, Luftschutzkeller für die SS gebaut, Ziegel und Holz geschleppt – sommers wie winters. Die meisten hielten das nicht länger drei Monate durch“, erzählt Geve.

Und Josua hört zu. Gemeinsam stehen sie im Schnee. Gleise, Zäune und Wachtürme scheinen allenfalls schemenhaft-grau durch den weißen Nebel. Birkenau, Auschwitz und Buchenwald verschwimmen so im Film zu einem einzigen, unwirtlichen, tödlichen „Unort“. Der Film findet hier eine eindrucksvolle Bildersprache – jenseits der bekannten Bilder von der Auschwitzer Rampe oder dem schmiedeeisernen „Arbeit macht frei“.

Als der Projektor verstummt, herrscht zunächst Stille in den Weserterrassen. Erst zögern sie, dann wollen die Schüler alles ganz genau wissen. Und wieder antwortet Geve – der gerade eine Ausstellung mit seinen Zeichnungen in der Bürgerschaft eröffnet hat. Warum er die tätowierte Häftlingsnummer auf seinem Arm nicht hat entfernen lassen („Das gehört zu mir“), ob er nicht um sein Leben gefürchtet habe („Ich hatte immer Hoffnung“). Und: Was mit den Freunden aus der Maurerschule inAuschwitz passiert sei („Zwei leben noch“)?

„Am meisten hat mich sein Mut und seine Kraft beeindruckt, mit der er das alles ganz allein durchstand. Und dass er heute so darüber reden kann“, sagt Sina (17). Ihre Freundin Kim (16) ergänzt: „Ich fand besonders faszinierend, dass er gar keinen Hass empfindet. Ich würde die Menschen hassen, die meine Mutter umgebracht haben.“

Anne Ruprecht

„Hier gibt es keine Kinder“, heißt die Ausstellung von Thomas Geve in der Bürgerschaft. Zu sehen sind Bilder von der Rampe in Auschwitz bis zur Befreiung in Buchenwald, die er nach der Befreiung gezeichnet hat.