: Ihr habt keine Wahl
Bregtje van der Haaks Videofilm „Lagos/Koolhaas“ folgt Rem Koolhaas durch die nigerianische Hauptstadt
In Notzeiten sollte man erfinderisch sein, und so haben wir sie jetzt: die Ersatzstadt. Es lässt sich dabei an einen billigen Nachbau denken. Das Scheitern und Obsoletwerden der europäischen Stadt ist die These, und vor diesem Hintergrund soll untersucht werden, was es an Alltagspraktiken und an Versammlungsformen, an Aneignungs- und Austauschweisen gibt in den Riesenstädten des Südens. Angetreten als Projekt von Metrozones (Stephan Lanz, Jochen Becker), Tulip House inc. (Anselm Franke, Hannah Hurtzig) und der Volksbühne, stellt die Ersatzstadt über die Installation von Multiplicity, die die Umstände und Vertuschungen eines dramatischen Schiffsunglücks illegalisierter Flüchtlinge untersucht, die Verbindung her zum Flüchtlings-Thementag in der Volksbühne.
Megacitys wie Bombay, São Paulo und Lagos überführen das alte Stadtmodell in die Bedeutungslosigkeit, am Leben gehalten höchstens noch durch Nord-West-Zentrismus. Der stellt die südlichen Städte am liebsten mit Bildern von brodelnden Massen zwischen Selbstbausiedlungen dar, auf die man möglichst von oben herunterblickt. Mit dem Videofilm „Lagos/Koolhaas“ von Bregtje van der Haak zeigt Ersatzstadt nun den niederländischen Radikalarchitekten und Superstrukturbeobachter Rem Koolhaas, wie er in der 14-Millionen-Stadt Lagos als „Feldforscher“ das begutachtet, was für zukünftige Städtekonzepte wichtig werden könnte: eine wild wachsende Stadt, deren Bruttosozialprodukt zu über 50 Prozent durch informellen Handel generiert wird – die ganze Innenstadt ein Megamarkt. Im Film stromt Koolhaas mit seinen Begleitern durch Lagos, unterwegs im Go-Slow des Verkehrs, mit Fotoapparat und Zettelchen, bestürmt von Stauhändlern. Sie sprechen mit einem Jungen, der Wasser in Plastiktüten verkauft, mit lokalen Müllverwertern und einem Minibusfahrer und begleiten die Talkshow-Gastgeberin Funmi Iyanda. Alle versuchen zu erklären, welche Überlebenstechniken nötig sind, um mit dieser Superstadt umzugehen. Nicht umsonst heißt die Mega-Religionsgemeinschaft Winner-Church.
Warum funktioniert das überhaupt, fragt Frau Iyanda, darauf antwortet Koolhaas: „Ich glaube, ihr habt keine Wahl!“ Er habe „einen Instinkt, dass Lagos eine sehr wichtige Stadt werden wird. Wir wollen die ersten sein, die herausfinden, wie sie funktioniert“. Also eher von diesem unglaublichen System Lagos lernen, als dort planen und bauen.
MADELEINE BERNSTORFF
„Lagos/Koolhaas“, Sonntag, 20 Uhr, Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz
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