Europa zittert vor den Iren

Innenpolitische Dummheiten beeinflussen Referendum um den EU-Vertrag

aus Dublin RALF SOTSCHECK

Hundert Millionen Osteuropäer blicken gebannt auf Irland. Denn am heutigen Samstag stimmen rund drei Millionen Iren über den EU-Vertrag von Nizza ab – und damit über die geplante Erweiterung der Union. Der Vertrag regelt unter anderem, wie die EU nach der Vergrößerung von 15 auf 25 und mehr Staaten arbeitsfähig bleiben kann. Dazu gehören die Zusammensetzung des Europaparlaments und der EU-Kommission sowie die Stimmgewichtung der Staaten im Rat der Staats- und Regierungschefs.

Alle anderen EU-Staaten haben den Vertrag längst ratifiziert, nur in Irland darf das Volk entscheiden. Beim ersten Referendum vor 16 Monaten sagten 54 Prozent der Wähler Nein zu Nizza. Die einen befürchteten, eine gemeinsame Verteidigungspolitik gefährde Irlands Neutralität, die anderen bemängelten, dass Irland künftig kein automatisches Anrecht auf einen EU-Kommissar haben soll und viele Entscheidungen nicht mehr durch Übereinstimmung, sondern durch eine „qualifizierte Mehrheit“ entschieden werden. Manche hatten Angst, dass durch die Aufnahme osteuropäischer Länder weniger EU-Geld für Irland übrig wäre.

Für die Ratifizierung sind Kirchen, Gewerkschaften und alle Parteien, bis auf die Grünen und Sinn Féin, der politische Flügel der Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Die Pro-Seite argumentiert, nach einer zweiten Ablehnung würden die anderen Länder Irland als „Schurkenstaat“ bestrafen. Die Politiker behaupten, der Volksentscheid 2001 sei unwirksam, weil nicht mal ein Drittel der Wahlberechtigten teilgenommen habe.

Um den Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat die Regierung auf dem EU-Gipfel von Sevilla eine Erklärung abgegeben, dass die irische Neutralität durch den Vertrag von Nizza nicht beeinträchtigt wird. Die anderen 14 EU-Staaten bestätigten diese Sichtweise. Weil das rechtlich nicht bindend ist, wurde vorsichtshalber ein Zusatzparagraf in den Referendumstext aufgenommen: Irland werde bei einer gemeinsamen Verteidigungspolitik nicht mitmachen.

Dennoch ist der Ausgang am Samstag ungewiss. Laut einer Umfrage der Zeitung Star vom Mittwoch wollen zwar 39 Prozent für den Vertrag stimmen und nur 22 Prozent dagegen. Aber fast ein Drittel ist noch unentschlossen.

Die Regierungspartei führt deshalb eine intensive Wahlkampagne. Sie hat an jeden Baum und an jede Laterne Plakate mit einem riesigen „Yes“ aufgehängt. Der Parteiname hingegen ist kaum sichtbar unten in der Ecke abgebildet, als ob man sich dafür schämt. Gründe gäbe es genug. So ist inzwischen bekannt, dass Finanzminister Charlie McCreevy die Wähler im Frühsommer vor den Parlamentswahlen belog, als er ein rosiges Bild der Wirtschaft malte. In Wirklichkeit liegt die Staatsverschuldung bei drei Milliarden Euro, die Arbeitslosenzahlen steigen. Vom „keltischen Tiger“ ist nur noch eine hohe Inflation übrig geblieben.

Ende September legte ein Richter das Ergebnis seiner Untersuchung über politische Korruption in Irland vor. Eine der Hauptfiguren, die für die Umwidmung von Agrar- in Bauland hohe Summen kassierten, ist Ray Burke, den Premier Bertie Ahern 1997 zum Außenminister machte, obwohl es schon damals Gerüchte über dessen Bestechlichkeit gab. Wenige Tage nach der Burke-Enthüllung musste ausgerechnet der Mann zurücktreten, der die Regierungskampagne für den Nizza-Vertrag leitete: P. J. Mara besaß ein Geheimkonto im Ausland, das der Steuerhinterziehung diente. Mit dem Vertrag von Nizza hat das alles wenig zu tun, doch auch beim letzten Nein spielten innenpolitische Gründe eine wichtige Rolle.

Auch für die Neinsager läuft nicht alles nach Wunsch. Neben Sinn Féin und den Grünen lehnen auch marxistische Organisationen, ausländerfeindliche Gruppen und katholische Fundamentalisten den Nizza-Vertrag ab. Ein Sprecher der Nein-Gruppen, die mehr oder weniger Distanz voneinander halten, ist der militante Abtreibungsgegner Justin Barrett. Barrett ist gern gesehener Redner auf Veranstaltungen rechtsextremer Parteien in Deutschland und Italien, wie vor wenigen Tagen bekannt wurde. Er habe nicht gewusst, was das für Parteien waren, auf deren Veranstaltungen er sprach, verteidigte sich Barrett. Die Nizza-Befürworter versuchen, seine Dummheit auszunutzen, doch ob sie die Entgleisungen der Regierung aufwiegt, ist fraglich.

„Die Leute haben die Nase voll von den Lügen und der Korruption der Regierung“, sagt Pat Rabbitte von der Labour Party, die den Vertrag befürwortet. „Die Wähler glauben, dass sie der Regierung einen Tritt in den Hintern verpassen können, indem sie mit Nein stimmen. Das wäre eine Katastrophe.“