von lauten und leisen menschen von KARL WEGMANN
:

Der Sommer ist tot. Unsere Trauer hält sich jedoch in Grenzen, schließlich regnet es immer noch. Es ist ein gemütlicher Abend. Aus den Boxen fließt zähflüssig Becks neues Album „Sea Change“, Hermann hockt in der Ecke, liest Roddy Doyles „Rover rettet Weihnachten“ und giggelt die ganze Zeit; Bernd verkostet einen steinalten Calvados und jammert, „der Rolling Stone gehört jetzt Springer, wo soll das alles enden?“. Dann schüttet er sich noch einen ein, blickt traurig in die Runde und hofft auf Tröstung. No way, Beaves! Ich habe gerade Michael Connellys „Im Schatten des Mondes“ in Arbeit. Nicht schlecht, aber ich vermisse Harry Bosch. Konscho mampft Domino-Steine, ein Sonderangebot aus dem Supermarkt. Nur Willy versaut den Gesamteindruck.

Willy rennt hektisch durch die Wohnung und stopft alte Klamotten in einen großen, blauen Müllsack. Dabei schaut er dauernd auf die Uhr und murmelt: „Gleich kommen sie, gleich kommen sie.“ Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen, aber der Typ nervt. Dann klingelt es. Willy erstarrt und sagt: „Sie sind da!“ Er stolpert zur Wohnungstür. Draußen stehen zwei klatschnasse junge Männer, der eine sagt: „Sammlung Kleider alt.“ – „Äh ja, Moment“, stammelt Willy. Er stolpert wieder zurück, schnappt sich den Müllsack, zwängt noch eben ein historisches Slayer-T-Shirt hinein und zerrt das Ding in Richtung Ausgang. Dabei stößt er an den Tisch und fegt Konschos Gebäck direkt auf Hermanns Lektüre, Bernd kann gerade noch seinen Apfelschnaps in Sicherheit bringen, aber ein halbes Dutzend leerer Bierflaschen kullert vom Tisch. Alles schreit „Hey!“ und „Obacht!“.

Auf seinem Weg legt Willy noch einen großen Kerzenständer flach und tötet eine Spardose in Form eines rosaroten Porzellan-Nilpferds, auf der „Beer Money“ steht. An der Tür sagt er: „So, bitte.“ – „Danke“, sagt der eine, grinst breit und meint: „Du sehr lauter Mensch.“ – „Ich weiß“, bestätigt Willy und schließt die Tür.

„Wenn ich das jetzt richtig kapiert habe“, sagt Hermann, „dann hast du den Russlanddeutschen deine Heavy-Metal-T-Shirt-Sammlung zukommen lassen.“ – „Yep!“, sagt Willy. „Sehr nobel“, meint Hermann, „ich seh schon all diese armen Menschen, wie sie mit deinen Monster- und Totenschädelhemdchen durchs Auffanglager flanieren.“ Willy zuckt die Schultern, und ich frage ihn: „Was hat er damit gemeint, du seist ein lauter Mensch?“ – „Na ja“, antwortet er, „es gibt leise Menschen, und es gibt laute Menschen. Wenn ein leiser Mensch sich in einer Wohnung aufhält, nimmst du ihn akustisch kaum wahr. Ein lauter dagegen kann keine Tasse aus dem Schrank nehmen, ohne an drei andere zu stoßen, keine Schublade leise öffnen; er haut auf die Türklinken, lässt den Klodeckel fallen, eckt überall an … das alles macht er nicht absichtlich, er ist eben ein lauter Mensch.“ Dann erlöst er Beck und schiebt die neue Supergrass-CD in den Player. Nach den ersten Tönen sagt Hermann: „Carnaby Street so um 69 rum“ und ergänzt gleich darauf, „oh Mann, damals gab’s ’ne Menge lauter Menschen.“