: Hunde und andere Leckerli
Die Chinesen sind auf dem langen Marsch wohin auch immer. Ein wahrer Erlebnisbericht
Hunde sind in China beliebt, und sobald sie gar sind, führt man sie ihrer Bestimmung zu. „Hunde, die schmecken, bellen nicht“, lehrt Konfuzius. Anders als in Deutschland, wo Hunde zur Familie gehören, gelten sie in China als Tiere und werden genau wie Schlangen und Skorpione gegessen. Chinesen haben keine Vorurteile in der Ernährung. Nur Kannibalen haben noch weniger.
Ausländer aber haben in den Restaurants die Qual der Wahl. Ratlos schaute ich der Kellnerin ins Gesicht. Mir kam eine Idee: „Haben Sie Pfannkuchen?“ – „Nein“, erwiderte sie höflich und blickte auf meinen dichten Vollbart, „aber filzige Wolle mit Läusen drin!“ Ich gaffte sie verständnislos an. „Oder Affenhirn!“, lächelte die Kellnerin verwegen. Ich verstand die Anspielung sofort: „Hä?!“ Doch ich war konziliant: „Gut! Und statt Reis nehme ich Ameisen.“ Trotzdem musste ich auf die Toilette. Vielleicht war der Tee nicht lauwarm genug. Mit den Stäbchen kam ich dagegen gut zurecht – ich nahm einfach die Finger, und den Rest erledigten Hemd und Hose.
China ist anders, als es sich der extrem vorurteilslose und super gebildete Deutsche von heute vorstellt. Ich muss umlernen. Selbst das R können die Chinesen halbwegs, weshalb ich gar nicht erst im Laden für fremdsprachige Literatur nach Romanen von Roda Roda bei rororo frage.
1,2 Milliarden Chinesen sind es zur Zeit. „Das ist ein Fünftel der Weltbevölkerung!“, verkündet stolz mein einheimischer Reisebegleiter. Als Angehöriger der Vor-Pisa-Generation vermag ich fix im Kopf nachzurechnen: Ein Fünftel von zehn, das sind 50 Prozent der Menschheit, also praktisch wir alle! Wer aus dem dünn besiedelten Deutschland kommt, staunt. Ein Buch wie „Der Einzelne und die Masse“ könnte man hier in Milliardenauflage verkaufen!
Einem Bonmot zufolge ist China eine Volksrepublik. Doch an die Stelle von Maos Kampf gegen Individualismus, Rockmusik und Luxus sind längst Individualismus, Rockmusik und Luxus getreten. Man ist pragmatisch: „Egal, ob China sozialistisch oder kapitalistisch ist“, sagt der typische Chinese, „Hauptsache, die Privatwirtschaft floriert!“ So denken alle 1,5 Milliarden Chinesen. Langsam setzen sich aber auch westliche Auffassungen vom Gemeinwesen durch, und es gilt die Maxime: Eigentum verpflichtet – wozu auch?
Vorbei die Zeit des ruhmreichen Genossen Lei Feng, der nur ein Tropfen Wasser sein wollte, der im Ozean aufgeht, eine nie rostende Schraube in der Maschinerie des Kollektivs. Lang ist die Liste seiner Heldentaten: Nachts steht er im Regen auf und wirft sich über einen ungeschützten Zementsack, damit dem Staat kein Verlust entsteht. Sonntags geht er an keiner Baustelle vorüber, ohne ein wenig Beton zu mischen und ein paar Straßenmeter zu asphaltieren. Als Zugreisender wischt er die Bahnhofshalle feucht durch und zieht die Waggons übers Gebirge. Kaum hat man ihm einen eigenen Wohnplatz zugeteilt, führt er dem plötzlich bettlägerigen Nachbarn den Haushalt; kaum wird beim Volkskongress in Peking das Toilettenpapier knapp, hilft er mit der bloßen Zunge aus. Als er 1962 mit 21 Jahren starb, wurde er auf dem Acker untergepflügt und wirkte als Dünger für den Aufbau des Sozialismus. Im Jahr darauf erteilte Mao Tse-tung die Weisung: „Lernt von Lei Feng!“ Wenig später begann Lei Feng seine unsterblichen Ruhmestaten zu leisten.
Heute hat die Große Kapitalistische Kulturrevolution alles im Griff. Überall hängen die Propagandaplakate der Konzerne, Tag und Nacht hämmern sie ihre Losungen den Volksmassen ein. Das Zauberwort heißt „Kon-sum“, und das Angebot ist groß. Niemand muss mehr hungern: Spatzen, Heuschrecken und fette Maden gibt es überall zu kaufen. „Dank der gerechten Regierung ist genug für alle da!“, versichert mir ein Regierungssprecher. Doch plötzlich helle Aufregung: Ein Sack Reis ist umgefallen! Alle stürzen herbei, um ein Reiskorn zu erhaschen, das lange reichen muss. Und auf der Straße sitzen drei Milliarden Chinesen mit dem Kontrabass und erzählen sich was vom langen Marsch Chinas in die Gegenwart.
Damit China dort irgendwann in der Zukunft ankommt, werden große Projekte verwirklicht, die die Regierung als kühne Visionen propagiert, die Opposition aber für atemberaubende Utopien hält. Der Jangtse wird gestaut, Tibet soll eine fruchtbare Ackerebene werden, den Pazifik will man als Siedlungsland für zehn Milliarden Chinesen trockenlegen, mit dem entsalzten Wasser wird später der Mond urbar gemacht.
Das ist gar nicht so absurd, denn der Chinese ist kleiner und folglich leichter als der Europäer, weshalb ihm die geringere Schwerkraft auf dem Mond weniger zu schaffen macht. „Wir werden den Planeten Erde überholen, ohne ihn einzuholen!“, versprechen hundert Billionen Chinesen und freuen sich auf den Tag, an dem sie uns Europäern endlich eine lange Nase drehen. Oder jedenfalls tausend Trillionen Nasen. PETER KÖHLER
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