Filmer für alle Fälle

Dokumentarfilmtage Leipzig: Junge Regisseure klagen über fehlende TV-Sendeplätze, geringe Honorare und unrealistisch hohe Leistungsansprüche

aus Leipzig SEBASTIAN HEINZEL

„Man kann eine Kamera auf dieses Fest stellen und einen guten Film daraus machen“, schlägt Katrin Schlösser von der Berliner Produktionsfirma „ö-Film“ während der Podiumsdiskussion mit Blick auf die unbegrenzte Themenvielfalt und den Leipziger Marktplatz vor. Dort fand nicht nur das 45. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm statt, sondern parallel dazu das 2. Süßwasser-Fischfest: Eine Seniorenband im Matrosenoutfit mit Kapitänsmützen spielt zum Tanz. In einer schmucklosen grünen Plastikwanne bewundern Besucher apathische Karpfen, die ihrem baldigen Tod entgegentreiben.

Neue Berufsbilder

Nebenan schauten etwa 20.500 Interessierte die 360 Filme des Programms. Allein 14.500 Kinogänger widmeten sich den ausgewählten Dokumentarfilmen. Ein neuer Besucherrekord und die Bestätigung eines wachsenden Interesses am dokumentarischen Erzählen. Die Werke junger Filmemacher standen im Fokus, und so analysierten bei der Podiumsdiskussion „Zwischen allen Stühlen – Junger Dokumentarfilm zwischen Festival, Fernsehen und Kino“ junge Regiestudenten, TV-Redakteure, Produzenten und Verleiher das Spannungsfeld zwischen Hochschule und Produktionsalltag. Hier taucht das neue Berufsbild des „amphibischen Regisseurs“ auf, der sich nicht auf Spiel- oder Dokumentarfilm festlegt.

Jan Bosse, Regiestudent aus München, will so einer sein: „Mein Herz schlägt für den Dokumentarfilm, aber ich schließe nicht aus, auch mal einen Werbefilm oder ein Musikvideo zu drehen“, erklärt er ganz pragmatisch. Etwas „bleiern“ findet der 28-Jährige, dessen Film „Himmelreich“ in Leipzig läuft, die selbstmitleidige Debatte um die ach so miserable Lage deutscher Dokumentaristen. Niedrige Honorare, fehlende Sendeplätze und die geringe Präsenz von Dokumentarfilmen im Kino beklagen Regisseure und Vertreter von Filmhochschulen in den Festival-Foren immer und immer wieder.

Mittlerweile widersprechen ihnen die jungen Filmemacher selbst. Aelrun Goette, Absolventin der Filmhochschule in Babelsberg, greift sich das Mikrofon und fordert alle Dokumentarfilmer zum „positiven Kampf“ auf – ganz so, wie es das Maskottchen der Dokumentarfilmer, Tamara (Abb. rechts) mit der Kamera im Anschlag symbolisiert. „Man kann auch Forscher und unbescheidener sein.“ Im Verhalten den Sendern gegenüber sei Durchsetzungsfähigkeit gefragt, damit auch längere oder unkonventionelle Formate ihren Weg ins Programm fänden. Goettes für den SWR produzierter Film „Feldtagebuch – Allein unter Männern“ handelt von vier jungen Frauen, die sich entschieden haben, Soldatinnen zu werden.

Um Frauen Anfang zwanzig geht es auch im Debütfilm von Neelesha Bartels. „Fifty-Fifty“ ist ein dichtes Lifestyleporträt allein erziehender Mütter in Berlin-Kreuzberg. Über einen Monat lang beobachtete die 25-Jährige zwei ihrer Freundinnen und deren Leben zwischen Clubkultur, ihren Kindern und wechselnden Jobs. Konfliktreich und unterhaltsam zugleich: „Sie haben ein neues Genre erfunden – die Dokumentarfilmkomödie“, lautete nach der Vorführung das Lob für die Regisseurin.

Wille zum Erfolg

Bartels könnte als Prototyp für das neue Selbstverständnis junger Dokfilmer herhalten. Als 1997 ihre Bewerbung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin abgelehnt wird, beschließt sie trotzdem weiterzumachen. Sie tingelt im Filmbusiness herum, schauspielert und jobbt als Kellnerin. Jetzt läuft ihr Film im Zweiten Deutschen Fernsehen am 9. Dezember als Kleines Fernsehspiel.

Ein Erfolg, der dem pessimistischen Bild entspricht, das Herbert Schwering vom neuen Dokfilmer zeichnet: „Eier legende Wollmilchsäue“ müssen die multifunktionalen Filmemacher heute sein: innovativ, voller Ambition, gewandt im Umgang mit formatierten Sendeplätzen und unterhaltsam. Schwering ist Dozent an der Kunsthochschule für Medien in Köln, moderiert die Podiumsdiskussion und fände es „spannend, wenn sich einmal ein Intendant mit an den Tisch setzen würde“.

Stattdessen sitzt als TV-Vertreter hier wieder einmal Christian Cloos, ZDF-Redakteur beim Kleinen Fernsehspiel. Er kennt die Problematiken, bietet als Vertreter einer dokumentarischen Nische aber kaum Angriffsfläche. Die schwierige wirtschaftliche Situation der Dokfilmer erklärt er sich auch aus einer fehlenden Lobby für Dokumentarfilm. Zudem sei eine pessimistische Haltung „total en vogue“ geworden. Das sei nicht sehr produktiv. Cloos singt somit im Kanon der neuen jungen Filmer, die sich nicht mehr unterkriegen lassen und weiterschwimmen. Hoffentlich länger als die Karpfen auf dem benachbarten Fischmarkt in Leipzig. Die haben das Wochenende nicht überlebt.

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