stefan kuzmany über Alltag
: Ah, erdige Ehrlichkeit des Metal!

Ein richtiger Mann muss einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen und ein Konzert der Band Motörhead besuchen

Timo griff wie selbstverständlich nach meinem Bier. Er nahm einen großen Schluck, das Glas war leer. „Wir müssen jetzt los!“, sagte er und erhob sich bereits. Auch Marco stand auf. Die beiden sahen heute Abend irgendwie anders aus. Marco trug ein schwarzes T-Shirt mit einem weißen Totenkopf drauf, darüber stand „Motörhead“, darunter „England“. Er blickte grimmig. Timo trug ein schwarzes T-Shirt mit roter Schrift: „Motörhead“, darunter „Everything louder than anyone else“. Auch er blickte grimmig: „Kommst du jetzt mit?“

Gute Frage. Einerseits: Sie hatten noch eine Karte übrig für das Motörhead-Konzert heute Abend, und zwei, drei Lieder der Band kannte und schätzte ich. Andererseits: Seit ich solche Musik das letzte Mal gehört hatte, waren viele Jahre vergangen. Und ich war mit meinem Anzug eindeutig völlig falsch eingekleidet. „Das macht gar nichts!“, sagte Marco. „Das ist doch total cool!“, sagte Timo. Und dann schwärmten sie von Motörhead. Höhepunkt der ausufernden Hymne: Sie hatten beide, da kannten sie sich noch gar nicht, unabhängig von einander auf demselben Motörhead-Konzert in München einen Hörsturz erlitten. Mit glänzenden Augen wurde gefachsimpelt.

„Wie lange hat’s eigentlich bei dir gedauert, bis du wieder was gehört hast?“

„Zwei Tage nur ein hohes Pfeifen, dann ging’s wieder.“

„Bei mir waren es drei.“

Seither, so die Lehre aus dieser Erfahrung, würden sie sich nie mehr ohne Ohrenstöpsel einem Motörhead-Konzert nähern. Auch für mich hätten sie noch ein Paar übrig. Und überhaupt: Die ganze Sache sei eine Herausforderung, etwas für wahre Männer, die erst solche seien, wenn sie solches hinter sich gebracht hätten. Damit hatten sie mich natürlich im Sack.

Schon einen Kilometer von der Berliner Columbiahalle entfernt war klar, dass hier ein Heavy-Metal-Konzert größeren Ausmaßes stattfinden würde. Finstere Gestalten stolperten durch die Nacht, viele bereits betrunken. Reihenweise urinierten sie an den Straßenrand, kleine Bäche schlängelten sich über das Trottoir. Ah, Freiheit des Metal!

In der Halle. Immer wieder spürte ich, dass mein seltsam unpassender Aufzug einigen anderen Konzertbesuchern offenbar ein Dorn im Auge war. Ein langmähniger Motörhead-Fan musterte mich mit glasigem Blick. Ich ignorierte ihn, so gut es ging. Nach langen Minuten wandte er sich angewidert ab. Timo wollte Bier holen gehen und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Marco befand sich gerade in einer Unterhaltung: „Schubs mich noch ein einziges Mal und du bekommst mächtig eins in die Fresse“, erläuterte er seinem Gesprächspartner. Der verstand und zog sich zurück. Ah, erdige Ehrlichkeit des Metal!

„Lemmy!“, riefen jetzt immer mehr Menschen im Saal. Sie forderten den Auftritt von Motörhead, speziell den des Leadsängers, Bassisten und Kopfes der Gruppe, Lemmy Kilmister. „Lemmy! Lemmy! Lemmy! „Lemmy!“, rief auch ich, aber der Langmähnige von vorhin drehte sich nur wieder um und musterte mich abschätzig. Zum Trotz steckte ich mir vor seinen Augen die Ohrenstöpsel herein. Ah, der Trotz des Metalfans!

Lemmy trat auf und sagte: „We’re gonna kick your ass!“ Dann ging es los. Der sehr laute Bass wummerte in meinen Eingeweiden. Alle schüttelten ihre langen Haare. Ich war etwas irritiert, denn alle Lieder hörten sich gleich an: der gleiche Bass, ein nur minimal verändertes Gitarrenriff, dazu Kilmisters unverständliches Gröhlen. Gehörte das so? Oder lag das an meinen Ohrenstöpseln? Ich zog sie heraus. Ein Fehler. Sofort hörte ich nur noch ein Pfeifen. Stöpsel wieder rein. Ich reichte meine Frage auf einem Zettel an Marco weiter. Der schrieb zurück: Ja, das gehört so. Das Konzert dauerte ungefähr anderthalb Stunden, dann war es vorbei. Ah, wunderbare Stille nach dem Metalkonzert! Ich hatte es geschafft. Ich war ein Mann.

Timo blieb verschwunden. Wir warteten eine halbe Stunde lang, dann fuhren wir. Am nächsten Tag stellte sich heraus: Timo war schon viel früher gegangen. Es war ihm zu laut geworden.

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