Kann Essen Sünde sein?

In Eva Diamantsteins „Nachtmahl“ auf Kampnagel speist das Publikum mit NS-Täterinnen an einer Tafel

Die Tischgesellschaft reicht ein altes Foto herum. Zwei Dackel, verloren auf einer Wiese. „Das sind Wotan und Tristan“, brüstet sich Lydia (Dorothea Gädeke). Die Witwe eines SS-Diplomaten steht auf Natur. Solange sie harmlos ist, domestiziert. Lydia beschwört mit Hilfe der Romantiker die „große, melancholische Seele des deutschen Volkes“. Die Standardmetapher lullt ein, im Dämmerlicht, das die Kronleuchter von der Decke streuen.

Lydia gegenüber speist Hermine (Felicitas Ott), Fachärztin für Kindereuthanasie. Stets gefasst, immer noch überzeugt von der Richtgkeit ihres Tuns damals. „Die Eltern haben die Briefe aus unserer Trostbriefabteilung nie beanstandet. Sie haben die Verantwortung für ihre Kinder an den Staat abgegeben. Wir mussten die Drecksarbeit tun.“

An einer langenTafel genießen in Eva Diamantensteins Inszenierung Nachtmahl auf Kampnagel vier NS-Täterinnen sich selbst, und das Publikum isst mit. Schwelgt im Fünf-Gänge-Menü, das Lagerkommandantenwitwe Irmtraut auftragen lässt. Allerdings – mit jedem Bissen verleibt sich die ZuschauerIn ein Stück Mittäterschaft ein. Man sitzt schließlich mit dem Bösen an einem Tisch, nimmt dessen Perspektive ein, erliegt seinen Verführungen, lässt zu, dass Irmtraut ihr Personal mit Füßen tritt. Die Inszenierung bringt das Publikum in einen Zwiespalt: Soll man mitmachen oder eingreifen? Das Gewissen plagt, die meisten lassen den Nachtisch stehen. Wie sich im Ingwermus verlieren, während Irmtrauts Bedienstete das Kindersterben in der „Heilanstalt“ nachspielen? Wie mit der Situation umgehen?

Während der Frankfurter Aufführung hat ein Zuschauer Lydia Wasser über den Kopf gekippt. Das Hamburger Premierenpublikum ist nicht so weit gegangen, blieb aber gerne länger, um mit den SchaupielerInnen zu diskutieren. Über die alltägliche Ausgrenzung von Obdachlosen. Über eigene Verhaltensweisen. Ehrlich, offen, jenseits von pc-Attitüden. Diamantstein hat ihr Ziel erreicht. KATRIN JÄGER

Weitere Vorstellungen: Sonnabend und Sonntag, 19.30 Uhr, Kampnagel