Muss man, dann kann man!

Lektionen aus einem Klosteraufenthalt in der Mongolei. Wer dorthin flüchtet, um schleichenden Lebenskrisen zu entgehen, kommt garantiert neu geerdet zurück. Ein Selbstversuch in heißem Sommer, kaltem Winter, bei Fußball und Hammelfleisch

Mein Glück: Ich bin kein Vegetarier. Mein Pech: Fleisch ist hier Hammelfleisch …

von MICHAEL KRIESS

20. Juli 2001: Es ist Zeit, etwas in meinem Leben zu ändern! Bilanz eines schrecklichen Sommers: eine gescheiterte Beziehung, drei unbefriedigende Jobs, spielsüchtig und – wenig überraschend nach alldem – eine sich in Selbstauflösung befindende Persönlichkeit. Dazu kommt: Abscheu vor einer Gesellschaft, deren Antwort auf die Probleme dieser Welt in Scheuklappen zu liegen scheint. Und nach unzähligen munter geworfenen Steinen merke ich, dass ich mitten im Glashaus sitze. Die Entscheidung ist gefallen. Bei einem guten Gespräch mit einer guten Freundin bei gut zwei Promille in Hamburg: Ich, der Atheist, gehe ins Kloster!

16. September 2001: Fünfzehn Minuten kostet es den in der Schweiz lehrenden tibetischen Rinpoche, mich in die Mongolei zu schicken, einzuweisen eigentlich. Sinnsuche, Ausstieg, Gesellschaftsphobie – er hört das alles sicher nicht zum ersten Mal.

17. März 2002: Dutzende Flugtermine nach meiner ersten Reservierung bin ich nun also hier. Am Flughafen von Ulan-Bator, der mongolischen Hauptstadt, erwartet mich eine kleine Delegation des Klosters, bestehend aus dessen Leiter, Lobsang Darjaa, seinem Bruder Bilguun und einer Schülerin, Gerlee. Der Empfang ist herzlich und warm, als wären wir schon lange gute Freunde. Vielleicht aus einem früheren Leben? Ein strahlend blauer Morgen, etwa 20 Grad unter null und ein wahrer Koloss von einem Heizkraftwerk heißen mich auf der Fahrt in die Stadt willkommen. Wenn auch der Kommunismus hier gescheitert ist, er hat zumindest seine Monumente hinterlassen. Lobsang Darjaas Mutter erwartet uns bereits in ihrer Wohnung – und mich eine erste Bewährungsprobe. Entgegen allen Essensgewohnheiten muss ich um neun Uhr morgens Suppe löffeln. Hammelsuppe, um genau zu sein. Erste Mongolei-Lektion: Muss man – aus welchen Gründen auch immer –, dann kann man. Fast alles.

19. März 2002: Sieben Stunden dauert die Fahrt im Jeep von Ulan-Bator nach Amarbajasgalant, wie das Kloster kurz und bündig heißt. Spät in der Nacht taucht ein Licht aus der ewigen Weite der zentralasiatischen Steppe auf. Ende eines Ritts über Stock und Stein, der mit TÜV-geprüften Stoßdämpfern bereits hart genug gewesen wäre. Nur in der Fernsehwerbung gibt es eben sonnenüberflutete Märchenwelten und frisch geteerte einsame Landstraßen. Mein neues Zuhause ist eine Einzimmerwohnung. Zwei Betten, ein Holzofen, ein kleiner Tisch mit Kinderstuhl, und nichts ist von Ikea. Obwohl das Waschbecken in der Ecke mit dem untergestellten Auffangeimer den Gehirnen der Wohnproblemlöser aus Schweden entsprungen sein könnte. Apropos Probleme: Die sollte ich mit meiner Verdauung besser nicht bekommen. Wenn Wohnzimmer und Plumpsklo durch ein 20-Meter-Fußmarsch im Freien voneinander getrennt sind, was ja rein geruchstechnisch nicht unvernünftig erscheint, die Temperaturen aber jenseits von minus 20 Grad liegen, könnte Durchfall unter Umständen eine Lungenentzündung mit sich bringen …

20. März 2002: Am Morgen ramme ich mir beim Feuermachen ein Stück Holz knapp neben die Pulsader meiner linken Hand. Wäre wohl der erste Tote beim Spänehacken gewesen … Zu Mittag gibt es eine dünne Suppe mit Nudeln und Hammelfleisch. Mir steht die Ehre zu, am meisten Fettbrocken zu bekommen. Und Bilguun lässt mich das Credo der mongolischen Küche wissen: „No meat, no meal!“ Mein Glück: Ich bin kein Vegetarier. Mein Pech: Fleisch ist hier immer Hammelfleisch …

21. März 2002: Mein ursprüngliches Bild von sich mit Philosophie und Loslösung von allem Weltlichen befassenden Mönchen hat heute einen ordentlichen Kratzer abbekommen. „You look like Veron, the football player of Manchester United“, lässt mich Bogi, einer von zwei englischsprachigen Mönchen, wissen. Und auch wenn die optische Nähe zum argentinischen Star in den Reihen des englischen Großclubs dank Glatze vorhanden ist, das nun folgende Fachgespräch über Fußball war so ziemlich das Letzte, was ich erwartet hatte.

22. März 2001: Wer hat eigentlich Wasserleitungen erfunden? Die alten Römer? Die Ägypter? Egal. Hauptsache, wir haben sie! Habe einen Dreikilometermarsch zu einer kleinen Quelle hinter mir, samt überdimensionaler Milchkanne. Wie lange reichen 40 Liter Wasser wohl? Daheim gerade mal für eine Klospülung, oder?

23. März 2002: Alle scherzhaft ausgemalten Szenarien meiner Bekannten zu Hause sind bereits nach einer Woche Wirklichkeit geworden. Nicht nur dass ein tägliches Fußballmatch stattfindet, nein, ih versuche auch einigen Mönchen bereits Englisch beizubringen. Gut, meine Freunde hatten gespottet, ich würde sie zwingen, Deutsch zu lernen. Aus Bequemlichkeit. Nein, man hat mich gebeten, zu tun, was ich nun tue. Das Ergebnis dieses Experiments ist Realsatire pur. Keine gemeinsame verbale Basis. Hände und Füße im pantomimischen Dauereinsatz. Wenigstens wird mir nie mehr jemand bei „activity“ das Wasser reichen können …

26. März 2002: 40 Liter Wasser reichen etwa 4 Tage. Das weiß ich seit heute … Zu dieser Erkenntnis gesellt sich auch erstmals Abwechslung im Speiseplan. Nachdem bisher die Hammelsuppe ebendiesen beherrscht hat, gibt es heute – nun, eigentlich dasselbe. Nur mit Reis statt mit Nudeln.

12. April 2002: Die erste Woche meines Jeep-Trips durch das Land ist vorbei. Beschert hat ihn mir mein Klostervorstand, an dessen Stelle ich daran teilnehme und an dessen Statt ich mir nun die Seele aus dem Leib kotze. Vergiftung oder Virus? Dehydriert oder etwa gar von der Pest erwischt? Fakt ist, dass mir zum Frühstück vom israelischen Tourleiter drei Liter heißes Salzwasser eingeflößt werden, die mich von allem befreien, was meinen Magen auch nur irgendwie angegriffen haben könnte. Und einen hungernden streunenden Hund habe ich so auch glücklich machen können …

1. Mai 2002: Touristen tauchen auf aus dem blendenden Weiß der Steppe. Unvergesslich! Steigt doch der erste „Westler“, den ich nach sechs Wochen zu sehen bekomme, mit Khakishorts aus dem Jeep in den eisigen Schneesturm. Spätestens jetzt weiß ich wieder, warum ich die zivilisierte Welt verlassen habe.

27. Mai 2002: Ein Königreich für eine Disko, irgendeine. Nach mehr als zwei Monaten Abgeschiedenheit wäre ich sogar bereit, zum Mainstreamgedudel von Enrique Iglesias das Tanzbein zu schwingen. Könnte das Verlangen nach Musik irgendwann gar so stark werden, dass ich selbst DJ Ötzi ertragen würde? Ich grüble zu viel!

31. Mai 2002: Anpfiff zur Fußball-WM. Gar nicht weit weg von hier rollt der Ball, und erstmals seit 1974 werde ich, der Sportjournalist und Fußballjunkie, kein Spiel sehen! Sicher, ich wollte fernab jeglicher Zivilisation leben, der Reizüberflutung einmal entkommen – aber wenn das der Preis dafür ist …

14. Juni 2002: Was für ein Klima! Nachdem ich bis Mitte Mai nicht aus den langen Unterhosen gekommen bin, ist jetzt die Hitze kaum zu ertragen. Kein Wunder dass die Vorfahren meiner Gastgeber mühelos die halbe Welt erobern konnten. Dem Kalt-Warm der Mongolei müssen die Nomaden das Schlachtfeld gerne vorgezogen haben. Kriegsurlaub andersrum. Und dazu kommen nun die Fliegen.

6. August 2002: Na ja, wenn ich nun so zurückblicke, aus meinem Flugzeugbullauge in die Vergangenheit quasi, dann muss ich mir selbst Respekt zollen. Fünf Monate lang unter schwierigsten Bedingungen gelebt – und kein einziges Mal gejammert!