Vergesst die Einheit

Die PDS ist tot, aber der SPD wird es schwer fallen, ihr Erbe anzutreten. Der neue Osten Deutschlands wird nicht rot, sondern selbstbewusst und vor allem unberechenbar

Der Osten bleibt eine Teilgesellschaft und wird weiterhin eine eigenständige politische Rolle spielen

Am 22. September hat sich quasi über Nacht ein deutsches Wunder zugetragen: die Vollendung der inneren Einheit. Kaum noch jemand spricht über die dramatischen ökonomischen Probleme der neuen Länder, niemand über die tiefe mentale Kluft zwischen Ost und West, über unterschiedliche Biografien oder benachteiligte Eliten. Eine Jahrtausendflut, ein Antikriegswahlkampf, ein ostdeutscher Superminister – schon scheinen alle Gräben verschwunden, gleichwertige Lebensverhältnisse erreichbar und das Kapitel PDS abgeschlossen.

Vor allem die SPD wittert einmal mehr eine historische Chance. Sie will die PDS beerben und vor allem deren bisherige Wähler haben. Schon feiern sich die Sozialdemokraten als „einzige gesamtdeutsche Partei“ und verkünden, sie seien dank des roten Ostens die strukturelle Mehrheitspartei der ganzen Republik. Gerhard Schröder gerierte sich auf dem SPD-Parteitag gar als Bebel-Urenkel, will „die Spaltung der Arbeiterbewegung beenden“.

Ohne Zweifel endet mit dem Scheitern der PDS die Nachwendezeit. Die SED-Nachfolgepartei hat ihre historische Mission erfüllt. Einmal mehr werden jetzt Vergleiche mit der Nachkriegszeit und dem damals erfolgreichen „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ bemüht. Aber die Unterschiede sind größer als die Parallelen. Der Osten ist nicht im Westen aufgegangen, er bleibt eine Teilgesellschaft: anders strukturiert, von anderen Werten geprägt und ökonomisch abgekoppelt.

Allein deshalb wird der Osten weiterhin eine eigenständige politische Rolle spielen. Vor allem aber wird er unberechenbar bleiben. Das war das Einzige, worauf man sich bei den Ostdeutschen bislang verlassen konnte. Die Bindung an Parteien ist gering, die Wechselbereitschaft ist groß. Gleichzeitig orientieren sich die Wähler im Osten stärker an Personen als an Parteien. Damit haben CDU und FDP leidvolle Erfahrungen gemacht. Und inzwischen auch die PDS.

Dieselbe ostdeutsche SPD, die jetzt ihren historischen Sieg feiert, musste vor sechs Monaten in Sachsen-Anhalt eine schmerzhafte Niederlage verarbeiten. Die Sozialdemokraten sollten sich daran erinnern, dass sie schon 1989 vergeblich ein sozialdemokratisches Zeitalter ausgerufen hatten – und vor drei Jahren in Sachsen lediglich blamable 10 Prozent erzielten. Der Grat zwischen grandiosem Sieg und vernichtender Niederlage ist in Ostdeutschland äußerst schmal.

Natürlich beginnt jetzt eine neue Phase im Ost-West-Verhältnis. Nach Demut, Hoffnung, Frust und Abgrenzung beginnt nun eine Zeit ostdeutschen Selbstbewusstseins. Nicht nur die ostdeutschen Sozialdemokraten forderten nach den Bundestagswahlen mehr Posten und mehr Einfluss in der Bundesregierung. Den ostdeutschen Bürgern ist heute bewusst, dass sie aufgrund ihrer Flexibilität seit 1990 im Grunde alle Bundestagswahlen entschieden haben. Ein wahlentscheidender Teil von ihnen setzt dies sehr bewusst ein. Wer in Deutschland zukünftig Wahlen gewinnen will, muss sich besonders um sie bemühen. Es hat keine neue sozialdemokratische Epoche begonnen – sondern die ostdeutsche.

Und das mit allen Konsequenzen: Wer die Erwartungen, seien sie auch noch so unrealistisch, nicht erfüllt, wird gnadenlos abgestraft. Das wird auch die SPD erfahren. Der neuer Bau-, Verkehrs-, und Aufbau-Ost-Superminister Manfred Stolpe muss erst noch beweisen, das er im knallharten Verteilungskampf um Besitzstände, Subventionen oder Autobahnen von den Provinzfürsten in Ost und West nicht gnadenlos zerrieben wird. Und er wird seinen ostdeutschen Landsleuten in den kommenden Jahren beibringen müssen, dass die ökonomische Situation dramatisch bleibt, die Einkommen niedriger und gleichwertige Lebensverhältnisse somit ein Traum bleiben werden. Die Merkel-CDU könnte also schon bald die ostdeutschen Herzen zurückgewinnen. Notfalls aber werden diese auch der PDS neues Leben einhauchen. Oder sich gar neuen Protestparteien zuwenden – das Potenzial für eine kleinbürgerliche, autoritäre ostdeutsche Bewegung ist beträchtlich.

Zumal die ostdeutsche SPD personell nicht besonders gut dasteht. Mit Manfred Stolpe und Matthias Platzeck bietet sie nur zwei Identifikationsfiguren. Das wird auf die Dauer nicht reichen, zumal Stolpe bis vor zwei Wochen noch als Auslaufmodell galt und deshalb in Brandenburg bereits abgelöst wurde. Weitere politische Talente sind im Osten nicht in Sicht, die SPD-Mitgliederbasis ist dünn. Selbst der Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee, der sich dem Ruf des Kanzlers verweigerte, muss noch beweisen, dass er mehr ist als eine Lokalgröße.

Eine neue Strategie im Umgang mit der PDS kann sich die SPD nicht leisten. Kehrt sie zu einem aggressiven Abgrenzungskurs zurück oder gewinnt sie gezielt führende PDS-Reformer für einen Parteiübertritt, gefährdet sie die Koalitionen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern; riskiert dort den eigenen Machtverlust. Es würde sich außerdem nicht rechnen. Die Gleichung „enttäuschte PDS-Wähler gleich neue SPD-Wähler“ geht nicht auf.

Die Traditionalisten unter den PDS-Anhängern werden niemals SPD wählen – selbst dann nicht, wenn diese plötzlich die Einheit der Arbeiterbewegung beschwört. Für alte DDR-Kader ist „Sozialdemokratismus“ weiterhin ein Schimpfwort, Überläufer würden sie in ihrem Weltbild eher bestärken denn verunsichern. Dieser Teil der PDS-Anhängerschaft wird der Partei noch lange eine bescheidene regionale Präsenz garantieren. Die anderen Hälfte wird das Heer der ostdeutschen Wechselwähler noch vergrößern.

Die Traditionalisten unter den Anhängern der PDS werden niemals die Sozialdemokraten wählen

Das wird deren Unberechenbarkeit noch erhöhen. Schon bald nämlich werden nicht mehr Hochwassersolidarität und Friedenssehnsucht sondern Ost-West-Gegensätze die politische Agenda bestimmen. Die Elbeflut hat zwar eine Welle westdeutscher Spendenbereitschaft ausgelöst, Politiker haben schnelle Hilfe versprochen, vor allem der Kanzler hat den Eindruck erweckt, keinem Opfer werde es schlechter gehen als vor der Flut. Es wird jedoch nicht mehr lange dauern, und die Dankbarkeit wird erst in Ungeduld und dann in Unzufriedenheit umschlagen. Es wird nicht Monate, sondern Jahre dauern, bis die Schäden beseitigt sind.

Damit wird wieder in den Vordergrund rücken, dass sich kein ostdeutsches Problem erledigt hat. Die Massenabwanderung vor allem vieler junger Ostdeutscher hält weiter an, die ökonomische Schere zwischen Ost und West geht immer weiter auf. Die Arbeitslosenquote ist im Osten weiterhin doppelt so hoch wie im Westen. Noch immer fühlen sich zwei Drittel der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse. Deshalb werden sie auch in Zukunft anders wählen.

Der Osten bleibt unberechenbar und spannend. Langfristig wird ihn dies sogar nach vorn bringen, weil er sich endlich auf seine eigenen Stärken besinnt. Das ganze Land allerdings wird sich daran gewöhnen müssen, dass der Osten anders tickt, anders denkt und anders wählt. Die innere Einheit wird erst dann vollendet sein, wenn sie keiner mehr vermisst. CHRISTOPH SEILS