Lulas Sieg ist greifbar

In Brasilien ist „Lula“ da Silva der Sieg in der Stichwahl nicht zu nehmen. Sein Gegner kämpfte vergeblich gegen die verheerende Wirtschaftsbilanz

aus Porto Alegre GERHARD DILGER

Auf den ersten Blick wirkt die Szenerie idyllisch. Auf der kaum befahrenen Seitenstraße in Porto Alegres Arbeiterviertel Medianeira spielen dunkelhäutige Kinder. In den grün bewachsenen Höfen hinter den einstöckigen Häusern tummeln sich Haustiere. Adão Artur da Silva bringt in seiner Werkstatt einen alten VW-Käfer auf Vordermann. „Die Leute sparen sogar an den Reparaturen“, berichtet der pensionierte Polizist, der schon lange nebenbei als Mechaniker arbeitet. Jetzt wählt er erstmals den Linkskandidaten Luiz Inácio „Lula“ da Silva: „Ich dachte immer, die Bürgerlichen würden solider wirtschaften – aber so einen Einbruch wie in den letzten Jahren habe ich noch nie gesehen.“

Seine Nachbarin Maria Dornelles pflichtet ihm bei: „Alles wird teurer: Bohnen, Reis, Sojaöl.“ Seit 20 Monaten sinkt das Realeinkommen der BrasilianerInnen. Die Hausangestellte, die in ihrem Viertel für die Arbeiterpartei PT wirbt, stellt aber auch klar, was sie erwartet: „Wenn Lula nicht bald den Mindestlohn erhöht, stehe ich in sechs Monaten vor dem Präsidentenpalast.“

Sämtliche Umfragen sagen Lula für die morgige Stichwahl eine Mehrheit von über 60 Prozent gegen seinen Kontrahenten José Serra voraus. Das Wahlkampfthema war bis zuletzt die Wirtschaftspolitik: Selbst Serra versuchte sich als Mann des „Wandels“ darzustellen. In der Tat zählte der frühere Planungs- und Gesundheitsminister in der Mitte-rechts-Regierung von Präsident Fernando Henrique Cardoso nie zu den Verfechtern des neoliberalen Kurses.

Doch das Wahlvolk strafte ihn bereits im ersten Wahlgang als Mitverantwortlichen für die Krise ab. Die drei Oppositionskandidaten kamen zusammen auf über 76 Prozent. Selbst ehemalige Kollegen fällen ein strenges Urteil über die Ära Cardoso: Die Regierung war „auf sozialer, politischer und ethischer Ebene bewundernswert“, meint etwa Exminister Luis Carlos Bresser Pereira, der Serra nahe steht – doch ökonomisch habe sie versagt.

Die rigide Wechselkurspolitik von 1995 bis zur Abwertung des Real im Januar 1999 sei im Grunde populistisch gewesen, sagt Bresser Pereira. Zwar habe Cardoso dadurch die Inflation in den Griff bekommen, doch habe er seine Wachstumsstrategie einseitig auf den Zustrom von Auslandskapital ausgerichtet.

Durch das hohe Zinsniveau wurde zwar das Finanzkapital geködert, aber auch der einheimischen Industrie der Geldhahn abgedreht. Die Staatsverschuldung wuchs auf über 230 Milliarden Dollar an. Die Zinsen hierfür verschlingen mittlerweile rund 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und die Verschuldungsspirale dreht sich weiter. Der Real ist seit Jahresbeginn um 40 Prozent eingebrochen. Und trotz Rekordhandelsüberschüssen bleibt die Zahlungsbilanz chronisch defizitär. „Das war ein Finanzierungsmodell für die Unterentwicklung“, meint Bresser Pereira und macht Brasiliens Elite verantwortlich: „Weder die USA noch die Weltbank oder der IWF haben uns zu dieser Politik gezwungen. Sie haben sie nur vorgeschlagen und unterstützt.“

So sehr Serra beklagt, dass sich Lula noch nur zu einem direkten Schlagabtausch im Fernsehen bereit erklärte, so oft er auf die fehlende Regierungserfahrung des Favoriten verwies und eine bekannte Schauspielerin in TV-Spots die angeblichen Ängste des Bürgertums beschwören ließ – seine Attacken liefen ins Leere. Lula hingegen hat inzwischen offenbar sogar die Finanzmärkte überzeugt, dass er weder mit dem IWF brechen noch ein Schuldenmoratorium verkünden will: Am Donnerstag fiel der Dollar um 2,8 Prozent auf 3,80 Reais. Brasiliens Staatspapiere legten erneut zu, und auch das „Länderrisiko“, nach dem sich das Zinsniveau für Auslandskreite richtet, sinkt wieder.

Der kommende Präsident dämpft schon die Erwartungen seiner Anhänger. „Ich weiß, dass ich den Traum von Millionen nicht verraten darf“, sagte er in Fortaleza. „Aber wir werden keine Wunder vollbringen. Zuerst werden wir das Nötige tun, dann das Mögliche und dann vielleicht das Unmögliche.“ Tage zuvor war er seinen bedrängten Parteifreunden in Porto Alegre zu Hilfe geeilt – denn hier könnte die von PT-Linken geführte Landesregierung entgegen dem Landestrend abgewählt werden.