„Das nutzt Putin“

Der Berliner Russlandexperte Jörg Baberowski über die Wurzeln des Konflikts zwischen Russen und Tschetschenen

taz: Herr Baberowski, warum entziehen sich die Randgebiete Russlands immer wieder der Moskauer Zentralregierung?

Jörg Baberowski: Die Randregionen des Imperiums entziehen sich nicht grundsätzlich dem Zentrum. Solche Erscheinungen zeigen sich nur dort, wo Ethnien zu Zeiten der stalinistischen Herrschaft gegeneinander ausgespielt wurden, indem der Stalin’sche Apparat sie in Hierarchien einteilte.

Welche Motive stehen hinter dem Konflikt im Kaukasus?

Der Konflikt schöpft aus dem kollektiven Gedächtnis der Tschetschenen. Die dortige Gesellschaft wird nicht zuletzt durch mündliche Überlieferung ihrer Vergangenheit zusammengehalten. In dieser sind die Gräuel der Stalinzeit auf besondere Weise aufgehoben.

Der Krieg im Kaukasus führt zu Gewaltexzessen auf beiden Seiten. Welche Rolle spielt Gewalt dort?

Körperliche Gewalt ist in der Kaukasusregion eine Ressource für jedermann. Ein staatliches Gewaltmonopol gibt es nicht. Geiselnahmen sind ein seit langem erprobtes und akzeptiertes Mittel, den Gegner zu Verhandlungen zu zwingen.

Putin vermutet islamische Fundamentalisten hinter der Moskauer Geiselnahme. Was halten Sie davon?

Putin nutzt das Drama für seine Zwecke. Die russische Bevölkerung hat starke Vorbehalte gegen Menschen aus dem Kaukasus. In diesem Klima kann er den Krieg eskalieren lassen. Aber: Unter den Geiselnehmern in Moskau sind auch Frauen. Das wäre für islamische Fundamentalisten undenkbar. Putins Verweis auf den islamischen Fundamentalismus führt in die Irre.

INTERVIEW: MATTHIAS BRAUN