Der Albtraum findet kein Ende

Auf den Terror aus Tschetschenien folgt die Härte des Militärs in Tschetschenien. Als Erstes soll Rebellenpräsident Maschadow „neutralisiert“ werden

aus Moskau KARSTEN PACKEISER

Der Kreml sieht sich nach dem Ende des Geiseldramas in seiner Tschetschenienpolitik bestätigt. Aufforderungen aus dem Westen, jetzt ernsthaft eine politische Lösung des Konflikts zu suchen, stoßen in Moskau auf Unverständnis. Denn nach offizieller Lesart gibt es in Tschetschenien gar keinen Krieg mehr. In den staatlichen Medien haben Berichte über das befriedete Tschetschenien und den erfolgreichen Wiederaufbau der Republik Hochkonjunktur.

Unklar war die aktuelle Lage in der Bürgerkriegsrepublik. Berichte über neue, großflächige so genannte Säuberungsaktionen, in deren Verlauf es oft zu massenhaften Plünderungen und dem Verschwinden von Menschen kommt, wurden offiziell nicht bestätigt. Bereits am Samstag riegelten gepanzerte Fahrzeuge der russischen Armee in der an Tschetschenien grenzenden Teilrepublik Inguschetien tschetschenische Flüchtlingslager ab. Unklar war, ob die Operation in direktem Zusammenhang mit dem Moskauer Geiseldrama stand.

Verhandlungen mit den Anführern der tschetschenischen Kämpfer sind in weite Ferne gerückt. Zwar hatte der in den Untergrund geflohene Rebellenpräsident Aslan Maschadow sich halbherzig von den Geiselnehmern distanziert, doch in Moskau gilt er allgemein als Organisator der Geiselnahme. Maschadow müsse „neutralisiert“ werden, forderte der prorussische tschetschenische Premierminister Stanislaw Iljassow. „Je schneller das passiert, desto besser.“ Der Moskauer Statthalter in Grosny, Achmed-Hadschi Kadyrow, der Mitte der 90er-Jahre selbst noch zum Heiligen Krieg gegen die Russen aufgerufen hatte, sagte das baldige Ende der Rebellen voraus. Die von den Terroristen aus dem Moskauer Theater geforderte Aufnahme von Verhandlungen mit Maschadow hätte lediglich neue Massengeiselnahmen provoziert.

Jedoch kann vom Ende des Krieges, das wirklichkeitsferne Militärs schon so oft ausgerufen hatten, keine Rede sein. Die Moskauer Geiselnahme ist dafür ein weitere Beleg. Die Kampfgruppen sind nicht nur in der Lage, überall in Tschetschenien Anschläge auf Militäreinrichtungen zu verüben und selbst, wie im August geschehen, in Sichtweite des russischen Hauptquartiers in Chankala bei Grosny einen Militärhubschrauber mit über 100 Passagieren abzuschießen. Sie können den Krieg vielmehr bis in die russische Hauptstadt tragen.

Dabei könnte das Rezept für ein Ende des tschetschenischen Albtraums gar nicht so kompliziert sein. „Wenn die russische Armee ihre Säuberungen und Plünderungen einstellt, wird der tschetschenische Widerstand innerhalb von zwei Wochen zusammenbrechen“, schätzt Abdullah Chamsajew, einer der angesehensten Vertreter der tschetschenischen Diaspora in Moskau. In der russischen Führung und auch in der Staatsanwaltschaft gebe es durchaus viele vernünftige Kräfte, die die russischen Kriegsverbrechen verfolgen wollten. Aber das Militär blockiere die Ermittlungen in den meisten Fälle. Die tschetschenische Zivilbevölkerung könne sich nur mit den Russen arrangieren, wenn sie von der Armee beschützt und nicht mehr fortlaufend erniedrigt werde.

Die russische Regierung wertet indes mehr als zuvor jegliche westliche Kontakte zu den tschetschenischen Rebellen als Angriff auf die weltweite Anti-Terror-Internationale. Moskau droht damit, den für November geplanten EU-Russland-Gipfel und einen Besuch in Kopenhagen platzen zu lassen, sollte in der dänischen Hauptstadt wie vorgesehen ein tschetschenischer Weltkongress stattfinden, auf dem auch Vertreter der Rebellen zu Wort kommen sollen. Der dänische Botschafter wurde gestern ins Moskauer Außenministerium bestellt, wo ihm eine Protestnote überreicht wurde.