Die schreckliche Jeanett

Treffen sich sehr kalte und sehr warme Luft, entsteht ein Orkan. Ein solcher raste am Sonntag über Deutschland hinweg

Jeanett beeindruckt, verängstigt und fasziniert die Menschen mit ihrer Kraft. Sie ist ein Tiefdruckgebiet und wurde am 25. Oktober 2002 geboren. Jeanett gehört zur Familie der Orkane. Diese Familienmitglieder haben eines gemein: Sie sind Winde, die auf der Beaufortskala den höchsten Stärkegrad zwölf erreichen und damit Geschwindigkeiten von 117 Stundenkilometern und mehr. Alle Orkane sind außertropische Wirbelstürme oder Sturmtiefs. Man nennt sie auch Winterstürme. Sie sind reisefreudig und besuchen oft West- und Mitteleuropa. Die bekanntesten Mitglieder der Familie sind Vivian, Wiebke und Lothar. Sie stürmten im Januar 1990, im April 1990 und im Januar 2000 über den europäischen Kontinent.

Jeanett ist das zehnte Sturmtief in diesem Jahr. Dass es ein Mädchen werden würde, war den Verwandten klar, denn das letzte Orkankind war männlich. Seit 1979 wechseln sich Orkanmädchen und -jungen ab, früher war das nicht so. Da waren Stürme immer nur weiblich. Frauen erreichten 1979, dass die Stürme abwechselnd ihr Geschlecht verändern. Heute folgen weibliche und männliche Namen alphabetisch aufeinander. Jedes Jahr geht es im Januar wieder bei A los. Die Idee, Stürmen Namen zu geben, stammt aus dem pazifischen Raum und wurde zum internationalen Standard.

Orkankinder werden überwiegend im Winter geboren, deshalb auch der Name Winterstürme, aber einige kommen auch im Herbst zur Welt, wie Jeanett. Sie werden auf ganz besondere Weise gezeugt: Vater ist die kalte polare Luft und Mutter die subtropische Wärme. Sie lernen sich durch die geheimnisvolle Korioliskraft kennen, die den Kaltluftvater so nach Westen und Mutter Warmluft so nach Osten ablenkt, dass sie aneinander vorbeigleiten. Sie tanzen umeinander herum, und im Zentrum der Drehbewegung fällt der Luftdruck stark ab. Es entstehen weiträumige Tiefdruckwirbel, und die nachströmende Kaltluft bringt heftige Winde. Je größer der Temperaturunterschied zwischen der kalten und der warmen Luft ist, desto heftiger die Winde. Reicht die Kraft aus, wird ein neuer Orkan geboren.

Jeanett entpuppte sich als heftiger Sturm. Meteorologen konnten schon am letzten Freitag erahnen, was da auf Europa zukommt. Nur einige Stunden alt, raste sie auch schon los, quer über den Atlantik, wurde immer schneller und stürmte über Europa, das Auge auf Großbritannien und die Nordsee. Im direkten Zentrum des Orkans werden nicht so hohe Geschwindigkeiten erreicht wie am Rand. Hier kam Jeanett auf Geschwindigkeiten um die 140 km/h. Die Menschen verkrochen sich in ihre Häuser und beobachteten Jeanett lieber von einem Gardinenspalt aus. Im Harz hatte sie es besonders eilig und stürmte mit 176 Kilometern in der Stunde durch das Mittelgebirge. Bäume knicken vor Ehrfurcht um. Doch so schnell sie gekommen war, so schnell zog sie auch weiter. Mittlerweile ist sie in Osteuropa, und heute Abend wird der Spuk auch schon ein Ende haben. Hier wirkt die einfache Physik: Das Land, über das sie hinwegfegt, nimmt ihr viel Kraft. Auf dem Wasser dagegen hätte sie noch einige Tage weiterstürmen können.

Doch auch so ist die Bilanz traurig: In Deutschland starben mindestens 10 Menschen, europaweit gab es etwa 30 Todesopfer durch umknickende Bäume oder herabfallende Dächer.

SUSANNE KLINGNER