Die Kraft aus der Kastanie

aus Bastia und Mazzola DOROTHEA HAHN

„Meine Flaschen kommen über das Meer“, sagt Dominique Sialelli. Vom Kontinent kommen auch der Hopfen und das Malz, der Weizen und der Zucker. Die glänzenden Stahlrohre, die Filter und die Kessel. Und das Kapital für die Fabrik auf der Insel. Und die Chefs – der in Paris geborene 45-jährige Sialelli und seine aus der Normandie stammende gleichaltrige Frau Armelle.

Korsisch sind die Arbeiter. Und das grob gemahlene Mehl aus Esskastanien, das in Säcken aus weißem Kunststoff auf dem Betonboden der „Pietra“-Brauerei lagert, direkt gegenüber dem Fußballstadion von Bastia. Das Kastanienmehl kommt aus dem 50 Kilometer weiter südlich gelegenen Bergmassiv Castagniccia. Seine Beigabe in kleinen Mengen gibt dem Bier die dunkle Farbe und den herben Geschmack. Es macht das Getränk zum „biera corsa“.

Eine Brauerei auf Korsika. Das hat es nie zuvor gegeben. Da mag das erste Bier vor 7.000 Jahren noch so sehr in Ägypten oder in Mesopotamien, jedenfalls im Mittelmeerraum, entstanden sein. „Korsika war jungfräulich“, sagt Madame Sialelli. In Bierfragen zumindest.

Die Idee entstand 1992 in Paris, wo die beiden jungen Sialellis arbeiteten. Nicht in der Getränkeherstellung, sondern „in der Kommunikation“. Sie wollten die Hauptstadt verlassen und auf die Mittelmeerinsel ziehen. Für Dominique war es eine „Rückkehr“. Seine Vorfahren stammten von der Insel. Grundlage für das neue Leben sollte etwas typisch Korsisches sein. Dazu eine Firma, die von Anfang an schwarze Zahlen schreibt.

Brauen rund um die Uhr

Sie dachten an Wein, an Käse, an Honig und Olivenöl. Doch überall war die Konkurrenz groß. Dann kamen sie auf das Bier. Und auf die Kastanie. Sie war jahrhundertelang ein Grundnahrungsmittel der Korsen. Ihr Gebrauch rettete die Insulaner mehrfach vor Hungerkatastrophen. Ein Bier mit Kastanien hatte es in der ganzen Welt nie zuvor gegeben.

Ein Labor auf dem Kontinent lieferte das Rezept für Kastanienbier. Marktforscher fanden heraus, dass sich so etwas auch außerhalb der Insel verkaufen ließe. Als das klar war, machten sich die Sialellis an die Umsetzung.

Vier Jahre nach der Idee in Paris stand in Bastia eine Fabrik aus hellem Metall. Gelegen in dem flachen Küstenstreifen zwischen Mittelmeerstrand und dem Aufstieg in die Berge. Die Chefs legten ihre Aktenköfferchen in einem Büro im ersten Stock ab, von dort geht der Blick durch eine Glasscheibe über die ganze Halle. Inzwischen produzieren sie 25.000 Hektoliter Bier im Jahr, verkaufen 60 Prozent auf Korsika und den Rest auf dem Kontinent – davon zwei Drittel in Frankreich und einen wachsenden Anteil in anderen europäischen Ländern – und setzen jährlich fünf Millionen Euro um.

Zehn Jahre nach der Idee gehören die Sialellis zu den wenigen großen Arbeitgebern auf einer Insel, auf der die meisten Patrons en famille bleiben. Sie haben 25 fest Beschäftigte und bis zu zehn Saisonarbeiter im Hochsommer, wenn sich die Inselbevölkerung vervielfacht und die Brauerei im Dreischichttakt rund um die Uhr läuft.

30 Prozent der knapp drei Millionen investierten Euro sind Subventionen, davon die Hälfte aus dem Regionalfonds der EU, der Rest aus französischen und korsischen Töpfen. Das habe das Projekt „beschleunigt“, sagt Monsieur Sialelli. Ohne die Hilfen „gäbe es hier heute weniger Arbeitsplätze“. Mehr Aufhebens will er nicht um die Subventionen machen, er erinnert sich nicht mal an ihre exakte Höhe. Kontakt mit EU-Stellen hatte er nicht. Den Antrag stellte er, wie in Korsika üblich, bei der Adec. Die „Agentur für die wirtschaftliche Entwicklung Korsikas“ entscheidet sowohl über die Vergabe von Subventionen aus europäischen als auch aus französischen Fonds. Jahre nach der Fabrikeröffnung kam ein EU-Kontrolleur vorbei: „Er wollte sehen, ob wir tatsächlich eine Brauerei gebaut haben.“

Die Arbeiter an den Stahlrohren und am Fließband, auf dem die abgefüllten Flaschen vor die Verpackungskisten rollen, haben keine Ahnung, woher das Geld für ihre Fabrik kommt. „Darum kümmert sich der Patron“, sagen sie. Die meisten sind froh, überhaupt einen Job zu haben. Auf Korsika, wo die Arbeitslosigkeit über dem französischen Durchschnitt liegt, ist das schon schwer genug.

Auf Korsika heißt es: „Wir sind jetzt ein europäisches Departement.“ Vor den Häusern flattern die gold-blauen Sternenbanner der EU neben der korsischen Fahne mit dem schwarz-weißen Mohrenkopf. Die französische Trikolore fehlt. Die Inselbewohner verstehen sich als Europäer. Wegen der Hilfen, die die korsische Entwicklung fördern sollen. Und weil die EU „eine Macht gegen die USA ist“. Würde man die Insulaner zur Osterweiterung der Union fragen, wäre ihre Zustimmung sicher. Wie schon bei dem Referendum über die Maastrichter Verträge, bei dem die Zustimmung deutlich höher war als die der Kontinentalfranzosen. Sie täten das, obwohl die europäischen Subventionen künftig stärker gen Osten als in den Süden fließen werden. Und obwohl sie überzeugt sind, dass Korsika weiterhin Unterstützung benötigt. „Die im Osten brauchen die EU mehr als wir“, sagt ein Arbeiter am Abfüllband in der Bierfabrik. Und ist sich zugleich „völlig sicher“, dass Paris die Lücke füllen wird: „Frankreich ist reich genug, uns zu helfen.“

In Reisebroschüren ist Korsika die „Insel der Schönheit“. Ein romantischer Fels im Mittelmeer. Für die Inselbewohner hat das Idyll Tücken. Es fehlen Straßen, öffentliche Verkehrsmittel, Fachschulen und ganze Wirtschaftszweige. Produziert wird wenig. Die Waren kommen vom Kontinent. Und legen dabei Seestrecken zwischen 320 Kilometer bis Marseille und 190 Kilometer bis Genua zurück. Die Löhne auf Korsika sind niedrig und die Preise liegen fast alle höher als auf dem Kontinent. Von der Miete in den Hafenstädten Bastia und Ajaccio über die Flugtickets zum Kontinent bis hin zu Lebensmitteln ist das Leben teurer. Selbst korsische Clementinen können in Bastia mehr kosten als in Paris. Daran ändern die Pariser Steuernachlässe für Investoren auf Korsika nichts.

Der hartnäckige Kastanienbauer

Luxus ist auch das Kastanienbier. „Für den Preis von dreien davon kriege ich zehn Flaschen anderes Bier“, sagt der Kassierer in einem Supermarkt von Bastia und zuckt resigniert mit den Schultern, „ist halt ein korsisches Produkt. Für Leute mit Geld.“ Der Unternehmer Sialelli nennt die hohen Preise „logisch für jeden, der etwas von Wirtschaft versteht“. Er spricht von „Transport und Logistik“, von seinen Flaschen aus Übersee, von dem „kleinen Absatzmarkt“ mit nur 230.000 Inselbewohnern und zählt auch die Bomben der korsischen Nationalisten zu den „Handikaps“ der Insel. Mit einem „multinationalen Konzern, der große Märkte kontrolliert und tausendmal mehr Bier produziert, kann ich nicht mithalten“, sagt er. Lieber misst er sich an belgischem Qualitätsbier. Aber auch das kostet auf der Insel weniger als das korsische Bier.

Auf den Berghängen der Castagniccia, wo der Rohstoff zu dem Kastanienbier heranwächst, sorgt der Erfolg der Brauerei für Aufbruchstimmung. Jean-Paul Vincensini ist einer der wenigen Bauern, die hartnäckig an der Kastanie festgehalten haben. Darüber ist er immer einsamer geworden. In den vergangenen Jahrzehnten sank die Nachfrage nach den Früchten und nach dem Kastanienmehl ständig. Das einstige Grundnahrungsmittel, mit dem die Altvordern den zähflüssigen Getreidebrei Pulenta und Teigfladen herstellten, mit dem sie Suppen kochten und das sie als Gemüse benutzten, wurde von Weißbrot und Weizen vom Kontinent verdrängt. Kastanien erinnerten dagegen an Armut und an Krieg. Die Bergdörfer entvölkerten sich. Die bis zu 1.600 Jahre alten Bäume blieben sich selbst überlassen. Sowie den Schweinezüchtern, die ihre Tiere mit den Kastanien mästen.

Ganz allmählich kommen die Früchte wieder in Mode. Dieses Mal als Luxusgut. Sie werden in Feinschmeckerläden verkauft und in teuren Restaurants, wo die Köche mit dem dunklen, würzigen Mehl experimentieren. Und 20 Prozent der Ernte kauft die Bierbrauerei auf. Im Jahr 2.000 nahm schließlich auch die EU die Kastanienkultur von Jean-Paul Vincensini in ihr Förderprogramm auf. Sie subventionierte eine neue Kühl- und Trockenanlage. „Für mich kommt die Hilfe ein bisschen zu spät“, sagt der 57-Jährige, der jahrzehntelang vergeblich Hilfen beantragt hat. Aber seine drei erwachsenen Söhne sind eingestiegen. „Wir sind Profis der Kastanienkultur“, sagt Philippe Vincensini, 28, selbstbewusst.

Der Junior im grünen Anzug steht knöcheltief im Herbstlaub auf einem Hang bei dem Dorf Mazzola. Ab und zu puhlt er eine Kastanie aus ihrer stacheligen grünen Schale und wirft sie wütend auf eines der rosafarbenen, schwarz gesprenkelten kleinen Schweine, die rund um ihn seine Kastanien auffressen. Die Tiere lassen sich nicht beirren. In wenigen Wochen werden sie dick und würzig sein und der Züchter wird ihre Schenkel zu Schinken verarbeiten und aus dem übrigen Fleisch Figatellu-Würstchen herstellen oder Lonzu, der in hauchdünnen Scheiben am besten schmeckt.

Mit dem Minibus aus Ungarn

Am anderen Ende des Hangs hocken junge Leute und wühlen mit den Händen im Laub, um den Schweinen zuvorzukommen. Sie werfen die Kastanien in kleine Eimer. Mitte Oktober sind sie im Minibus aus Ungarn angereist, um Kastanien auf Korsika einzusammeln. Einen halben Euro pro Kilo zahlen ihnen die Vincensinis. „Korsen“, sagen sie, „wollen nicht in der Landwirtschaft arbeiten.“ Viele der Saisonarbeiter sind Studenten. Zu Hause in Budapest reicht ihnen das in drei Wochen Ernte verdiente Geld für drei Monate zum Leben.

„Natürlich bin ich für die Osterweiterung der EU“, sagt Philippe Vincensini, der Juniorchef auf dem Berghang, „wir sind nicht allein in Europa. Aber auch Korsika wird immer Subventionen brauchen.“