Der Nutzen des Banalen

DAS SCHLAGLOCH     von KLAUS KREIMEIER

Es bedarf des Banalen, um das näher rückende Grauen wieder in unverbindliche Ferne zu verschieben

„Al-Qaida will Eisenbahnen entgleisen lassen.“ FBI-Warnung laut Spiegel-Online

Zwei Schauspieler, zwei Popsänger, eine frühere Pornodarstellerin und ein Moderator schlagen sich in einem Kölner Boxring für Geld und zur Hebung der guten Laune die Nase blutig. Boris Becker, kaum dem Knast entronnen, droht ein neues Steuerverfahren. In Texas trafen sich – krönender Abschluss der Jagd auf den Massenmörder Williams – Amerikas Scharfschützen zum jährlichen Sniper Meeting. Ein Fotograf versteigert seine erotischen Schnappschüsse von Anke Engelke und Verona Feldbusch und überweist den Erlös an die Opfer der ostdeutschen Flutkatastrophe. Eine Jury in Litauen macht sich auf die Suche nach der schönsten Verbrecherin, die zurzeit hinter Gittern sitzt.

Vermischte Nachrichten, „Buntes aus aller Welt“, Fundstücke aus dem globalen Trubel zwischen Kultur, Showbiz und Courths-Mahler, die in diesen Tagen die Hauptnachrichten grundieren. Schnipsel aus dem Murmeln und Wabern des Weltalltags, während Geiseln und Geiselnehmer in einem Moskauer Theater im Giftgas sterben und Bush seinen Krieg gegen den Irak vorbereitet. Null-Informationen, die kaum einen halben Tag überleben – und doch in einen Strom von unüberbietbar zählebiger Konsistenz einmünden.

Was in geruhsamen Epochen als Klatsch und Tratsch reüssierte und vor Jahrzehnten mit der von Enzensberger als „Scherbenwelt“ glossierten Wochenschau das Kinoprogramm bereicherte, ziert heute die Menüs des Online-Journalismus und läuft im schicken Webdesign unter „Panorama“, „People and Events“, „Laufsteg“ oder „Die Lust der Selbstdarstellung“ (so bei Spiegel-Online) inklusive Bildstrecken und Videofilmchen im Briefmarkenformat, gratis zappelnd und werbefinanziert.

Scherbenwelt? Vielleicht ist der Müll aus Nichtigkeiten, durch den wir als Mediennutzer täglich waten, der wirkliche Kitt unserer Welterfahrung, der uns davor bewahrt, dass mit der inkohärenten Realität auch unser Verstand in Scherben fällt. Schon längst ist die Macht des Trivialen ein Gegenstand emsiger sozialpsychologischer und anthropologischer Forschung. In der gnadenlose Kälte des Realen wirken das Geschwätz und das Gerücht, der Kult des Banalen und die Pflege der Ressentiments, die Sensationslust und die kostenlose Häme über fremdes Leid als eine behutsame, die verstörten Gemüter sanft wärmende Seelenmassage. Wie wären Krieg und Terror, Massenelend und Massenmord anders zu kompensieren als durch Sums und Schmus, durch die immergleichen Botschaften aus der grenzenlosen Stabilität des globalen Alltags, der uns mit Geschichten über „people and events“ versorgt? Da die Echtzeitmedien uns den realen Schrecken nicht nur vor die Haustür, sondern direkt ins Wohnzimmer kippen, sind uns die Beschwichtigungsmechanismen früherer Epochen verwehrt. Die geografische Ferne, die uns noch von der Not und Gefahr, in der andere leben, trennen mag, zählt nicht mehr; mit ihr schwindet auch die Möglichkeit zur inneren Distanz. Es bedarf des Banalen, um das näher rückende Grauen wieder in die Unverbindlichkeit einer imaginären Ferne zu verschieben.

Hier helfen nicht nur die Diskurse aus der Welt der Schönen und Reichen weiter. Einige Storys weisen eine neue Struktur auf, die das traditionelle Material, aus dem sich der Klatsch nährt, mit den Szenarien des Schreckens verkoppelt und seltsam mit „Sinn“ auflädt. Wenn ein prominenter Fotograf seine Pop-Ikonen zum Nutzen der Opfer einer schon fast vergessenen Flutkatastrophe versteigert, sind der bedrohliche Klimawandel und seine Folgen wieder bedrängend nah, aber auch der gute Mensch ist nicht fern, der stellvertretend für uns alle Buße tut. Dass überhaupt das Gute in bösen Zeiten obsiegt, zeigte sich auch in der verständigen Rücksichtnahme auf die Seelenlage der Nation, mit der die amerikanischen Snipers ihr Jahrestreffen veranstalteten: Sie „hielten die Medien fern“, zumal das Fernsehen, das kurz nach dem Scharfschützendrama von Washington bestürzende, dem gerade überstandenen Grauen allzu nahe Bilder geliefert hätte. So kam auch der Gemütszustand der Waffen tragenden Nation und der einschlägigen Lobby wieder ins Lot.

Der „terroristische Weltkrieg, wie der Spiegel wortbombastisch, aber sprachlos die aktuelle globale Lage beschreibt, stellt neue Ansprüche an die traditionellen Muster der Komplexitätsreduktion. Der altlinke Verdacht, mediale Berichterstattung sei nichts als ein Gebräu aus Sentiment und Sensation und verschleiere die „Zusammenhänge“, sticht nicht mehr.

Schon am Morgen nach der Geiselnahme in Moskau setzte die politische Ursachenforschung ein, an Putins schmutzigem Krieg in Tschetschenien kommt inzwischen auch die Yellow Press nicht mehr vorbei. Übertönt wurden die Analysen zeitweilig nur von jenen Anästhesisten und Toxikologen, die eine perverse Befreiungsaktion mittels Giftgas für den verstörten gesunden Menschenverstand auf der Ebene fast parodistisch anmutender Fachsimpeleien abzuhandeln hatten.

Die Medienmaschinen der Gegenwart beliefern jedes Marktsegment – und sie haben alles im Angebot, was Nachfrage vermuten lässt: von der Schauergeschichte bis zur wissenschaftlichen Expertise jeglicher Couleur. Bedingung ist freilich, dass die Gruselikone der Epoche, das düstere Konterfei Ussama Bin Ladens, nicht aus dem verhangenen Hintergrund der Terrorbilder verschwindet. Tot oder lebendig, dient seine Erscheinung einer Welterklärung, die gegen alle Differenzierungen letztlich immer bei der Fiktion des Urbösen und seiner Theatralisierung Zuflucht sucht. Da passt es, dass eine in London ansässige arabische Zeitung den „letzten Willen“ des Monsters zugespielt bekommen haben will – ein Papier, in dem sich Bin Laden, ganz nach dem Muster jenes Testaments aus dem Führerbunker, über den Verrat seiner Gefolgsleute beklagt.

Vielleicht ist der Müll aus Nichtigkeiten, durch den wir täglich waten, der Kitt unserer Welterfahrung

Andere Storys folgen den tragisch-melodramatischen Erzählweisen des Bänkelsangs. Klingt die Geschichte der deutschen Touristin, die dem Terroranschlag auf die Disco in Bali nur knapp entkommt, um wenige Tage später beim Baden in einem australischen Nationalpark von einem Krokodil zerfetzt zu werden, nicht wie eine uralte Moritat? Wie eine Begebenheit, die ein fahrender Nachrichtenüberbringer auf dem Dorfplatz kolportiert und mit belehrenden Bildtafeln dem Volk buchstäblich vor Augen führt? Wie eine Erzählung, die von grausigen Ereignissen an fernen Gestaden oder im nächsten Kaff zu berichten weiß – nicht ohne ihre erschütternde Botschaft mit einer didaktischen Sentenz zu versehen? Die Sentenz unseres Terror-Alltags ist freilich geeignet, die Touristikbranche in den Ruin zu treiben. Sie lautet klipp und klar: Die Urlauber erwischt es zuerst, und gerade die paradiesischen Gefilde auf dieser Erde sind, im Wortsinn, verminte Terrains, die sich in jeder Sekunde in eine Hölle verwandeln können.

Fazit: Auch der bunte Mischmasch aus aller Welt, der uns unterhalten und mit dem Unabänderlichen einer heillosen Wirklichkeit versöhnen soll, kommt nicht mehr ganz ohne das Memento mori aus. Auch in den Null-Informationen glitzert der Thrill des Bösen, der nach Rettung ruft.

Klaus Kreimeier ist Publizist und Medienwissenschaftler