Was Canossa bietet

von RALPH BOLLMANN

Der Außenminister selbst nimmt das C-Wort nicht in den Mund. Aber außer ihm selbst weiß jeder, wohin Joschka Fischer heute reist: nach Canossa. Wie sich einst der deutsche König Heinrich IV. vor dem mächtigsten Mann seiner Zeit in den Schnee warf (siehe Kasten), wird sich auch der Minister drei Tage lang in Demutsgesten üben. Doch in den 925 Jahren, die zwischen den beiden Besuchen vergangen sind, hat sich vor Ort einiges verändert. Die taz hat recherchiert, was den Außenminister in Canossa erwartet – und warum die Reise für den Asketen zu einem wahren Opfergang gerät.

1. Anreise: Ganz schlecht. Von Berlin nach Bologna braucht die Maschine der Flugbereitschaft nicht einmal zwei Stunden. Viel zu kurz, um all den mitgereisten Journalisten zu erklären, warum die Reise eben doch kein Canossa-Gang ist. Außerdem gibt es noch nicht mal eine Zeitverschiebung. Das demütigende Bild vom Minister, der vor dem verschlossenen Burgtor in die Knie fällt, wird zur besten Sendezeit zu sehen sein und morgen in allen Zeitungen erscheinen.

2. Begrüßung: Nach rund hundert Kilometern Autofahrt, zuletzt über kurvenreiche Straßen im Vorland des Apennin, erreicht die Wagenkolonne des Ministers Canossa. Am Ortsschild wartet Alfredo Gennari. Der Bürgermeister von der Liste „Einsatz für das Jahr 2000“ wurde mit stolzen 82,41 Prozent der Stimmen gewählt – eine Zahl, die schon fast an die Popularitätswerte des deutschen Außenministers heranreicht. Nur ein wenig mehr Macht hat der Kollege aus Canossa. „Der Bürgermeister bestimmt die Richtlinien der Gemeindepolitik“, steht in der örtlichen Satzung.

3. Übernachten: Eine echte Herausforderung fürs Protokoll. Die Burg, in der Heinrich IV. nach drei Tagen des Wartens endlich Aufnahme fand, ist zwischenzeitlich arg heruntergekommen (siehe Foto). Das heutige Angebot an Hotels beschränkt sich auf das „Albergo dei Pini“ im Ortsteil Roncaglio. Behagt diese „Pinienherberge“ dem grünen Politiker nicht, könnte er sich ganz stilgerecht in den Privatzimmern „Il Melograno di Matilde“ („Der Granatapfelbaum von Mathilde“) einquartieren. Dem Namen nach etwas arg spartanisch: die Zimmer auf dem Bauernhof „Il Rifugio“ („Die Schutzhütte“) im Ortsteil Pianzo.

4. Essen: Die Region um Canossa gilt als kulinarisches Paradies. Dem Ernährungsstil, den der deutsche Außenminister seit Jahren praktiziert, kommt die Küche der Emilia-Romagna allerdings weniger entgegen. Im Mittelpunkt steht das Schwein, vor allem dessen Beine. Ihr oberer Teil wird zu echtem Parmaschinken verarbeitet, der untere Teil kommt im benachbarten Modena als gefüllter Schweinsfuß auf den Tisch. Zweites Standbein der örtlichen Kochkunst: der Käse aus Parma und Reggio – in Deutschland als Parmesankäse bekannt, in Italien als Parmigiano-Reggiano. Alle diese Spezialitäten haben eines gemein: Sie bestehen, grob geschätzt, zu 25 bis 50 Prozent aus ungesundem tierischem Fett.

5. Trinken: So rustikal wie das Essen sind die Weine. Der bekannteste von ihnen genießt in Deutschland einen zweifelhaften Ruf. Doch der echte Lambrusco ist ein durchaus angenehmer Wein für alle Tage, der mit den klebrig-süßen Substanzen wenig gemein hat, die hierzulande in Zweiliterflaschen verkauft werden. Im Idealfall ist der Lambrusco ein alkoholarmer Rotwein mit angenehmer Säure und leichtem Hefegeschmack. Und eines haben ohnehin die meisten Weine der Region gemeinsam: Sie sind vini frizzanti, prickeln also auf der Zunge. Vor allem die lokalen Weißweine, die keinen ausgeprägten Eigengeschmack besitzen, haben dadurch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Lieblingsgetränk des Ministers – dem Mineralwasser.

6. Restaurants: Tja, für die Gastronomie gilt Ähnliches wie für die Hotellerie – so richtig außenministertauglich ist sie nicht. Ist der Bußgang absolviert, empfehlen wir auf der Rückfahrt zum Flughafen einen Zwischenstop in Reggio. Dort kehrte auch der Historiker und Reisebuchautor Werner Goez gerne ein, wenn er auf den Spuren Heinrichs IV. wandelte. Wenn die Gebrüder Mammi im Traditionslokal „Scudo d’Italia“ die Teller „mit erlesener Hausmannskost füllen“, schrieb Goez, „dann erlebt man das eigentümliche Fluidum Italiens in selten gewordener Unmittelbarkeit“. Und er schwärmt: „Hier ist man noch Gast im besten Sinn, nicht abzufütternde Straßenkundschaft, der man für möglichst geringe Leistung möglichst viel Geld aus der Tasche ziehen möchte.“

7. Sehenswürdigkeiten: Den einzigen Bau von touristischem Interesse besucht der Außenminister ohnehin. Schließlich handelt es sich um das eigentliche Ziel seiner Reise – um die Ruine jener Burg, in der das historische Treffen zwischen dem Papst und dem späteren Kaiser einst stattfand. Die Tore, die damals drei Tage lang fest verschlossen blieben, stehen heute täglich von 9 bis 19 Uhr offen. Zu beachten ist allerdings – wie überall in Italien – die Mittagspause, die von 12.30 Uhr bis 15 Uhr strikt eingehalten wird. Weniger bemerkenswert ist das zugehörige Museum. Die ausgestellten Bilder aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigen den berühmten Canossagang – und sind eher Zeugnisse unfreiwilliger Komik.

8. Kultur: In Berlin wird der Minister bisweilen in der Ehrenloge der Staatsoper gesichtet. Aber lässt sich ein Bußgang mit einem lustvollen Opernbesuch verbinden? Die Frage stellt sich im Heimatland des Genres gar nicht, denn an den meisten italienischen Opernhäusern beginnt die Saison erst im Winter. Das berühmte Teatro Comunale im benachbarten Bologna eröffnet die Spielzeit am 23. November mit Richard Wagners Lohengrin, am Teatro Regio in Parma kommt am 22. Dezember Ildebrando Pizzettis „Mord in der Kathedrale“ heraus, und die Oper in Reggio ruht sich sogar noch bis Januar aus.

9. Souvenirs: Da gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit. Es handelt sich um eine saure, dickflüssige Substanz von dunkler Farbe, die bereits der Amtsvorgänger des ersten Canossapilgers so schätzte: Ein Fässchen dieses berühmten Aceto Balsamico di Modena forderte Heinrich III. eigens beim Vater jener Gräfin Mathilde an, die später den berühmt gewordenen Canossagang vermitteln sollte. Und Mathildes Hofkaplan wusste über die Essigsendung zu berichten: „Der König empfing das Geschenk mit besonderer Wertschätzung und hielt es für eine kostbare Gabe.“

10. Informationen: Das Pauschalprogramm „Knien in Canossa – auf den Spuren von Joschka Fischer“ lässt leider noch auf sich warten. Vorerst müssen Touristen mit den Angeboten des „Ufficio Informazione e Accoglienza Turistica delle Terre Matildiche“ vorlieb nehmen, das sich auf die mittelalterliche Gräfin Mathilde beruft. Adresse, Öffnungszeiten und weitere Informationen finden sich im Internet unter www.matildedicanossa.it.