robin alexander über Schicksal
: Fatale dentale Provisorien

Noch schlimmer als die Siemenslampe über dem Zahnarztsessel ist die Gewissheit, noch einmal hinzumüssen

Im Zentrum der hellsten aller Sonnen strahlt ein Wort: Siemens. Mit Siemens mögen andere Leute Wirtschaftswunder, Münchner Wohlstandsvororte oder Mobiltelefone verbinden. Höre oder lese ich das Wort „Siemens“, fühle ich mich geblendet und ausgeliefert. Siemens hat die grelle Lampe gebaut, die mein Zahnarzt vor die Gesichter seiner Patienten hängt. Dann bohrt er.

Die von zwei s-Lauten eingerahmten hellen Vokale in „Siemens“ beschreiben lautmalerisch treffend das unangenehme Licht und die unangenehme Situation beim Zahnarzt.

Um Licht, Bohrer und Arzt wenigstens mit dem Bewusstsein zu entkommen, denke ich an andere Worte, die, was sie bezeichnen, schon im Klang beschreiben. Beim Hören des Adjektivs skyhigh sieht man sofort vor dem inneren Auge staunend in den Nacken geworfene Kinderhälse in den Schluchten von Manhattan. Das funktioniert allerdings nur, spricht man die Worte aus. Im Spanischen heißen Einzelkinder hijos unicos. Sieht man da nicht verwöhnte, tapsige kleine Prinzen? Ein anderes Beispiel: Das Wort „Frauenkörper“ klingt nach Biologieunterricht, Vorlesungen in Anatomie, Gender Studies und Magersucht. Nach etwas ganz anderem klingt „Weiberleiber“.

Kann man nicht vor sich hin sprechen, wie ich, der gerade feine Dentalwerkzeuge im Mund hat, muss man sich den Klang im Kopf bewusst vorstellen. Das funktioniert allerdings nur eingeschränkt. Die moderne Sprachphilosophie und Metalinguistik geht davon aus, dass Sprache im Kopf entsteht. Die Grammatik forme schon den Gedanken. Sprechen, Schreiben oder Tippen sei danach lediglich noch Artikulation. Ich glaube das nicht. Viele Kollegen formen die Worte mit den Lippen lautlos mit, wenn sie schreiben. Und beim Redigieren lesen sie sich selbst leise den Text noch einmal vor. Ein guter Text klingt. Klang entsteht nicht im Gehirn, Klang entsteht beim Menschen im Mund. Zumindest schöner Klang.

1955 begann Vladimir Nabokov einen Text, indem er die Bewegung der Organe beim Formen von Lauten beschrieb. „Die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei drei gegen die Zähne: Lo – Li – Ta.“ Ahmen Sie diese sehr einfache Bewegung nach, indem sie laut und bewusst sprechen, entsteht ein Klang, der Sie durch die nächsten 527 Seiten trägt. Ein Text, der so beginnt, kann nur gut werden. Darum ist Nabokovs Roman „Lolita“, obwohl der Plot doch arg schwül ist, ein wunderbares Buch.

Meine Zunge fühlt weder Gaumen noch Rachen. Ich spüre jetzt – nach der Behandlung, nach Siemens – nur eines: das Provisorium. Das Provisorium besteht aus „Fermit“, sitzt in zwei Löchern rechts oben in meinen Backenzähnen.

Schon das Wort Provisorium macht mich skeptisch. Es klingt lateinisch nach Institution und Ewigkeit und meint doch etwas Flüchtiges, Vorläufiges. „Provisorium“ bedeutet zwar Übergangslösung, aber in der Umgangssprache meint es das genaue Gegenteil. „Das können wir erst mal so lassen. Provisorisch“, spricht der hilfsbereite Heimwerkerfreund, nachdem er ein Küchenbord mangels Dübeln angenagelt hat. Er wird nicht wiederkommen, bevor das Brett herunterkracht. Wenn Politiker von einem „Provisorium“ sprechen, meinen sie: Ihr nehmt das erst mal hin, dann gewöhnt ihr euch daran, dann ist es schon Gewohnheitsrecht. Die Väter des Grundgesetzes bestanden darauf, ihr Werk sei „nur ein Provisorium“ für ein paar Nachkriegsjahre, allerlängstens bis zur Einheit in Freiheit. Auf die Verfassung warten wir noch heute.

Nimmt man den Begriff „Provisorium“ entgegen den Erfahrungen des Alltags und der Politik aber ernst, dann ist die einzig wichtige Frage: Was kommt danach? „Ich kann Ihnen drei Angebote machen“, sagt mein Zahnarzt, die als Patienteneigenverantwortung getarnte Klassenmedizin auf meine Löcher herunterdefinierend. Erstens: Inlays aus Keramik. Die sind super, sehen aus wie gesunde Zähne und halten ewig. Nachteil: eine dicke Zuzahlung. Zweitens: Inlays aus Gold. Nicht ganz so gut. Aber die halben Zusatzkosten. Und drittens?, frage ich, in der Hoffnung auf eine zuzahlungsfreie Variante. „Theoretisch könnte ich auch mit Amalgam auffüllen. Kostet nix. Aber in ein paar Jahren wird das sowieso überall ersetzt werden. Das wäre dann nur ein Provisorium.“

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