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Per Buntstift durch die Galaxis

Die Londoner Tate Gallery stellt die Kandidaten für den diesjährigen Turner-Preis vor: Liam Gillick sucht die Wohlfühlfarben der Globalisierung, Catherine Yass filmt, bis der städtische Raum zur abstrakten Fläche wird, Fiona Banner macht aus Pornos Textgestöber, und Keith Tyson lässt kein Nicht-Ich übrig

„But is it art?“, fragen sich Politiker und Journalisten jedes Jahr aufs Neue

von HARALD FRICKE

Wenn der Turner-Preis vergeben wird, sind die Briten hellwach. Dann gibt es Ärger über zersägte Kühe in Formalin oder über Elefantendung auf Leinwand. Dann fragt sich England: „But is it art?“, dann ist das kulturelle Erbe in Gefahr. Das sieht man an einem verblichenen Zeitungsausschnitt, der im Fenster einer antiquarischen Buchhandlung an der Shaftesbury Avenue im Londoner Westend hängt. Vor zwei Jahren hatte ein wütender Abgeordneter des House of Lords im New Statesman geschrieben, dass er junge britische Kunst hasst und dass er Nicolas Serota, den Direktor der Tate Gallery, und den Sammler Charles Saatchi für die Paten einer Kunstmafia hält, die jede kulturelle Tradition kaputtmacht. Bebildert war das Pamphlet mit einem Foto von Tracey Emin, die 2000 mit einem Bett voll dreckiger Wäsche für den Turner-Preis nominiert war. Gewonnen hat den weltweit renommiertesten Kunstpreis damals Steve McQueen für seine Filmarbeiten, die sich mit dem postkolonialen Erbe des britischen Empire beschäftigen.

Nun gehört der öffentliche Streit über die vermeintlich fehlende Qualität der ausgestellten Kunst zu den Ritualen rund um die Vergabe des Turner-Preises. Jedes Jahr demonstrieren Maler alter Schule vor der Tate Gallery, weil sie sich nicht repräsentiert fühlen; jedes Jahr auch meldet sich irgendein Politiker zu Wort, der die Kunst der vier ausgewählten Kandidaten ganz und gar für „Rubbish“ erklärt. Diesmal war es Mike Howell, immerhin Großbritanniens Kulturminister. Zudem war über die Nominierung Liam Gillicks in der Times ein Kommentar von Patrick Hughes zu lesen, der den mit Architektur und Design arbeitenden Installationskünstler am Goldsmith College in den Neunzigerjahren unterrichtete. Sein Urteil: Es mache ihn furchtbar traurig, mit ansehen zu müssen, wie Gillick dadurch Erfolg hat, dass er bunte Plastikscheiben an die Decke montiert. Dafür habe er ihm jedenfalls nicht die Farbenlehre von Paul Klee beigebracht.

Das stimmt. An Klee hat Gillick bei der Gestaltung seines Raums in der Tate Gallery nicht gedacht. Viel mehr erinnert die quer durch das Farbspektrum reichende Palette der Plexiglasplatten an Ideen von Bauhaus und De Stijl, an die totale Mobilisierung der Kunst für gesellschaftliche Zwecke. Doch der damit verbundenen Utopie von weniger Entfremdung im Leben glaubt der 38 Jahre alte Gillick auch nicht. Eher richtet er seine messebauartigen Deckenpaneele an Aufträgen aus, die von internationalen Museen oder Unternehmen kommen. Das sind nicht wenige: Unter dem Baldachin hat er eine Vitrine von über zehn Meter Länge mit Entwürfen ausgelegt, die Vorschläge reichen vom Katalogdesign für eine Ausstellung in Warschau über den Umbau einer Kunsthalle in Malmö bis zur Modernisierung der Porsche-Zentrale in Stuttgart. Es gibt Weihnachtspapier für den österreichischen Energiekonzern EVN, Logos, Plakate, schicke Briefkästen und selbst Badetücher, alles in pantone 179, einem Farbton nah an Whiskey.

Offenbar ist die korporatisierte Welt für Gillick eine ästhetische Herausforderung – wie sehen die Wohlfühlfarben der Globalisierung aus? Tatsächlich sucht er nach einem visuellen Code, der die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Soziabilität und ökonomischer Effizienz einebnet. Sein Braun beruhigt, sein matt glänzendes Regenbogen-Environment verursacht ein psychedelisches Flirren. Angenehm, sehr angenehm, hier schaut man hin, hier kauft man gern. All das geschieht im Bewusstsein, dass die Kulturindustrie ohnehin längst die Weichen gestellt hat: Kunst kommt von ihren Kontakten zur Wirtschaft. Dafür steht in England der Sammler Saatchi, der sein Geld aus der Werbebranche in young british artists investiert hat. Durch ihn wurden Damien Hirst und Co. zu Symbolen des Erfolgs, kulturelle Platzhalter für das blairsche „Cool Britannia“. Passenderweise wird Saatchi demnächst sein eigenes Collector’s Museum unweit des Parlaments eröffnen.

Auch sonst funktioniert keine Großausstellung mehr ohne Private-Public-Partnership. Selbst der mit 20.000 Pfund dotierte Turner-Preis ist von Channel 4 gesponsert, wobei sich der Fernsehsender im Gegenzug mit Porträts über die vier Kandidaten als wichtiger Kultursender in Szene setzen kann. Freundlich darf die Fotokünstlerin Catherine Yass im TV über ihre beiden für die Tate Gallery produzierten Filme plaudern, die von BBC gefördert wurden. In „Flight“ sieht man, wie eine an einem Modellflugzeug befestigte Kamera kopfüber oder im freien Fall durch Häuserschluchten rast, bis sich Dächer und Schornsteine wie in einem Karussell drehen. Ohne jede feste Perspektive wird der städtische Raum zu einem orientierungslosen Allover aus abstrakten Flächen. Das gilt auch für „The Descent“, eine langsam gefilmte Studie von Rohbauten, bei der die Kamera an einem Kran heruntergelassen wird. Der enorme technische Aufwand macht aber auch die Schwächen des Films sichtbar: In ihrer Begeisterung für die architektonischen Mikrostrukturen geht Yass gar nicht erst darauf ein, dass die Dienstleistungs-Towers Teil des Millenniumprojekts in den Docklands waren. Schon jetzt verödet dort massenweise öffentlicher Raum, der bei Yass nur mehr eine Kulisse für ihre postindustrielle Landschaftsmalerei hergibt.

Probleme gab es bei Channel 4 indes mit der Dokumentation über Fiona Banner. Weil die 1966 geborene Goldsmith-Absolventin mit expliziten Darstellungen aus Hardcore-Pornos arbeitet, mussten in dem Fernsehbeitrag einzelne Wörter ihrer großformatigen Texttafeln unkenntlich gemacht werden. Jetzt sieht man nur eine rosa Schmierschicht, wo im Original „cunt“, „dick“, „fuck“ oder „ass“ zu lesen ist. Der Kontinentaleuropäer wundert sich über den Aufruhr, doch der Evening Standard wird immer noch schamrot und fragt: „But is it art?“

Dass die Engländer Schwierigkeiten mit four letter words haben, weiß man seit den Graffiti-Fotos von Gilbert & George. Für Banner ist die Pornografie weder obszön noch erregend, bloß Material bei der Übertragung von Handlungen in Schrift. Vor ein paar Jahren hat sie in einem 1.000-Seiten-Buch aufgeschrieben, was im Verlauf von sechs Vietnamfilmen Minute für Minute an Action passiert; jetzt sind es die feinen Unterschiede der diversen Körperformationen in „Arsewoman in Wonderland“. Um die Beziehung von Voyeurismus und wahrnehmender Teilhabe geht es in beiden Fällen, aber auch darum, wie nah das geschriebene Wort überhaupt an Bilder heranreicht. Das Ergebnis ist selbst wiederum ein eng an eng beschriftetes Wandbild, vier Meter hoch und sechs Meter lang. Da zwischen den Wörtern und Zeilen kein Platz ausgespart ist, verirrt man sich beim Lesen, findet die Anschlüsse nicht und ist schließlich verloren in einem Feld aus Buchstaben. Ein vergleichbarer Effekt stellt sich ein, wenn man Dripping-Gemälde Jackson Pollocks aus kurzem Abstand ansieht. Das ist bei Banner vielleicht künstlerische Absicht, zumindest ein ironischer Verweis auf die zum Mythos gewordene Geste, mit der Pollock Farbe über die Leinwand spritzte.

Trotzdem ist Banner raffiniert genug, um das sture Beharren auf standardisierter Schrift nicht als gallige Parodie der expressiven Männlichkeit zu verwenden. Entsprechend kippen ihre peniblen Satzbauten ständig in Chaos um, werden Wachsamkeit und Strenge bei der Arbeit am Text durch immer ausuferndere Formulierungen für wechselnde Kopulationsstellungen aufgehoben – als ob die Lust an der Darstellung einen Gegenpol zum Dargestellten bilden könnte.

Auch bei Keith Tyson steht das Gefälle zwischen konzeptuellen Überlegungen und durchgedrehtem Manierismus im Mittelpunkt. Ganz konkret, mit einer Skulptur, die den Titel trägt „Tabletop Tales: Anticipating a Tumbling Coin from the Cherubic Mint“. Man sieht Münzen unter Glasglocken, die auf einem Labortisch durch Schläuche verbunden sind, darunter sitzt ein Löwe aus Plastik mit einem Kassettenrekorder. Niemand weiß, was das Experiment soll, nicht einmal Tyson – er hat sich das Arrangement von einem Computer diktieren lassen, der als „artmachine“ mit einem Zufallsgenerator skulpturale Settings entwickelt. Das ist systemischer Nonsens, den Tyson auch bei seinen Zeichnungsserien anwendet. Mal werden unsichtbare Dimensionen mit umständlichen Diagrammen errechnet, mal ein Knochenmodell für einen Tyrannosaurus Rex aus Neonröhren entwickelt, damit das Skelett im Dunkeln strahlt. Auf 42 Blättern zeichnet Tyson seine „7 wonders of the world“ nach, für die er sich bei Science-Fiction und Philosophie bedient: per Buntstift durch die Galaxis.

Das hat viel von einem acht Jahre alten Jungen, der zu Hause hockt und in seiner Einsamkeit an Aliens glaubt. Bei Tyson ist das Kind an sämtliche technischen Errungenschaften gekoppelt, es kennt sich mit Kybernetik genauso gut aus wie mit Genetik und Geschichte. Der Sinn des Lebens fällt für den 33 Jahre alte Tyson, der in Bristol „alternative practices“ studierte, mit der vollständigen Erklärbarkeit der Welt zusammen: Kein Nicht-Ich soll außerhalb übrig bleiben. Für diese Vorstellung geben die Zeichnungen ein Tagebuch aus lauter verschrobenen Spekulationen ab. Endlos variieren sie Listen, Stammbäume und Ableitungen auf dem Weg vom Denken zu den Dingen und wieder zurück. Schnell werden für ein imaginäres Kino Filmsequenzen erfunden oder der Sternenhimmel nach einer Botschaft abgesucht: „Turn back now“ leuchtet als finaler Witz für Astrologen am Ende des Universums.

Im Gegensatz zu Banner ist bei Tyson alles Unlesbare eine Bedrohung für das Selbst. Aber auch jedes entzifferte Phänomen bringt nur neue Erscheinungen hervor, die wieder gedeutet werden müssen und so weiter und so fort. Zuletzt steht sehr konsequent ein monumentaler schwarzer Block im Raum, in den sich bei Tyson Hegels Weltgeist eingeschlossen haben könnte: als Computer, der permanent neue Probleme ergrübelt – oder ist es der Denker von Rodin? Was man zeichnen kann, davon muss man sprechen. Nach dieser Devise ist nichts unmöglich, damit dürfte Tyson vermutlich sogar den Turner-Preis gewinnen. Wenn nicht er, dann Banner.

Bis 5. Januar 2003, Tate Britain Gallery, London. Der Gewinner wird am 8. 12. bekannt gegeben

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