Die totale Musik gibt es nicht mehr

Beim diesjährigen Jazzfest verloren technisierte Sounds und Geräusche wieder an Bedeutung, akustisches Instrumentieren stand dafür im Vordergrund. Und hinter den Kulissen tobten rund um die improvisierte Musik erbitterte Abgrenzungskämpfe

von MAXI SICKERT

Im Podewil ist die Stimmung ernst, flüsternd stehen einige an der Bar. Auf Fernsehbildschirmen laufen die Chicago-Videos des verstorbenen Bassisten und Gründungsmitglieds des Total Music Meeting (TMM), Peter Kowald. In dem seitlichen Ausstellungsraum hängen stumm die Porträtfotos von Peter Brötzmann, Mats Gustafsson, Han Bennink und Tristan Honsinger. Ein Mausoleum der gestorbenen Sehnsüchte, denn sie alle stehen nicht mehr hinter dem, was sie einst als Botschaft der improvisierten Musik verstanden: dem Total Music Meeting.

Über 30 Jahre lang fand das kleine, aber zunehmend bedeutende Festival parallel zum groß angelegten Jazzfest statt. Viele Geschichten ranken sich um das provokative Gegeneinander und das immerwährende Ringen um die Finanzierung. Neben Kowald waren es Jost Gebers und Peter Brötzmann, die das TMM 1968 zum ersten Mal veranstalteten. Jetzt zeigten sie sich demonstrativ jeden Tag beim Jazzfest. Sie sind alle bei ihrem Freund John Corbett, der auch Gustafsson, Bennink und Honsinger auf seiner Bühne im Festspielhaus präsentiert. Eine offensichtliche Botschaft an die jetzige TMM-Veranstalterin Helma Schleif, die sich mit Gebers überworfen hat.

Das Total Music Meeting gäbe es so nicht mehr, so Brötzmann. Er trauert auch nicht darum. Die Impulse der improvisierten Musik kämen aus Holland, Skandinavien und Chicago. Daher habe Corbett beim Jazzfest tatsächlich die derzeit wichtigen Vertreter der Szene gezeigt. Wenn der Etat nicht während der Planung gekürzt worden wäre, hätte Corbett seine ursprünglichen Ideen umsetzen können und auch andere wichtige Musiker gerade der „schwarzen Ästhetik“ (Cecil Taylor, der, dies nebenbei, allerdings beim TMM auftrat) zeigen können. Ornette Coleman war geplant und Fred Anderson sollte aus Chicago anreisen.

Doch auch wenn Sponsoren nicht unerwartet abspringen, schrumpft der Etat eines künstlerischen Leiters erheblich, wenn die Geldgeber – allen voran die ARD – bei der Programmgestaltung mitreden wollen und regelmäßig mindestens einen Auftritt ihres „Klangkörpers“, also einer ihrer Radio-Bigbands, durchdrücken. Wenn Geldgeber im Kulturbereich auch alle noch inhaltlich mitreden wollten, könnte man den unabhängigen Kulturbegriff gleich einstampfen.

Der Zustand der von Corbett präsentierten so genannten improvisierten Musik wirkte vertraut und keineswegs neu. Auf die Frage, ob er bei der „neuen Generation“ von Mats Gustafsson aus Schweden, Ken Vandermark aus Chicago und Ab Baars aus Amsterdam tatsächlich etwas Neues hören könne, lächelt Brötzmann. Dann sagt er, er sehe eine Tendenz der Rückkehr zu Strukturen, die von seiner Generation bewusst infrage gestellt worden sei. Er fände es interessant, dass diese Musiker jetzt wieder mit der Musik Louis Armstrongs auseinander setzen würden.

Auch Vandermark betont im Interview, dass ihm die amerikanische Klassik (im Jazz) ebenso wichtig sei wie die europäische Avantgarde. Vandermark, der vor zwei Jahren mit dem „Genius-Grant“ der Mac-Arthur-Stiftung 250.000 Dollar erhielt, investierte einen Teil des Geld in sein Territory-Band-Projekt, das erfolgreich beim Jazzfest präsentiert wurde und zeigte, wie ernsthaft und konzentriert Vandermark mit Musik umgeht. Den anderen Teil investierte er in eine USA-Tournee des Peter-Brötzmann-Tentetts. Das Goethe-Institut hatte kein Interesse gezeigt. Auch hier greifen wieder die ARD-Strukturen, und die WDR-Bigband wird als deutsches Exportgut um die Welt geschickt.

Auffällig war beim Jazzfest die überbetonte Körperlichkeit der Musiker, vor allem bei Mats Gustafsson. Drehende, tänzerische Bewegungen, aggressives Vorwärtsdrängen hatten einen erweiternden Performance-Charakter. Vandermark sieht diese Körperlichkeit als Versuch, die bestehenden und gewohnten Möglichkeiten des Instrumentes auszuweiten. Technisierte Sounds und Geräusche scheinen wieder an Bedeutung zu verlieren, akustisches Instrumentieren steht im Vordergrund.

Corbetts Festival sollte eine Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen improvisierten Musik und ihrer Vielfältigkeit werden. Er setzt damit etwas fort, was dem Jazzfest seit dem fast schon legendären Joachim-Ernst Behrendt abhanden gekommen war. Zum 30-jährigen Bestehen des Jazzfests 1994 hatte der damalige ARD-Sprecher Peter Schulze Behrendt wieder ausgeladen, zu groß waren die Gegensätze. Im kommenden Jahr wird Schulze das Jazzfest leiten. Damit ist die ARD dann endlich ganz bei sich.