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INDIENS KASTENLOSE UNTERSCHICHT NUTZT RELIGION ALS SPRENGSTOFFDie siamesischen Zwillinge trennen

In einem Land mit über einer Milliarde Menschen bedeuten auch kleine Minderheiten eine große Zahl von Menschen. 25 Millionen Inder sind Christen, 135 Millionen sind Muslime. Das ist es, was die radikalen Hindus begünstigt. Dass sie selber mit 83 Prozent Bevölkerungsanteil auf über 850 Millionen kommen, beeindruckt sie nicht. Sie empfinden Christentum und Islam als bedrohlich, weil diese Religionen auf Bekehrungen aus sind. Der Hinduismus, voller Götter und voller Widersprüche, ist keine Bekehrungsreligion. Als der Bundesstaat Tamil Nadu ein Gesetz gegen Bekehrungen ankündigte, ertönte in Delhi deshalb sofort der Ruf, ein solches für ganz Indien einzuführen.

„Wenn der Wind bläst, schnürt man sich den Mantel enger. Scheint die Sonne, öffnet man ihn“, lautet ein indisches Sprichwort: Wie anderswo wird die Globalisierung auch in Indien mehr als kalte Brise denn als Sonnenwärme empfunden. Sie hat dort die Besinnung auf Traditionen und bestehende gesellschaftliche Hirarchien bewirkt, umso mehr, als es bisher nicht gelungen ist, zumindest die materiellen Versprechen der Globalisierung in Form höheren Wohlstands einzulösen. Dass sich eine verunsicherte Kultur statt, wie etwa im arabischen Raum, den USA zwei Religionen als Gegner auswählt, ist wenig verwunderlich, denn Indiens Kultur ist religiös geprägt, und seine Geschichte ist voller islamischer und christlicher Eroberer. Doch es sind nicht nur islamische und christliche Institutionen, die sich gegen das neue Bekehrungsgesetz wenden.

Die stärkste Opposition kommt von Seiten der Dalits, Indiens kastenloser Unterschicht. Sie haben angedroht, „zu Millionen“ ihre Religion zu wechseln, falls das Gesetz in Kraft tritt. Das soziale Stigma der Unberührbarkeit ist mit der Konvertierung eng verbunden: Eine große Mehrheit der Muslime, Christen und Buddhisten waren einmal Kastenlose. Für die hinduistischen Dalits ist die Bekehrung der einzige Weg, der sozialen Zwangsjacke zu entgehen, denn im Hinduismus sind Kaste und Religion siamesische Zwillinge.

Das Anti-Bekehrungs-Gesetz erhält damit eine zusätzliche Dimension. Gefahr droht den radikalen Hindus – sie stammen überwiegend aus höheren Kasten – nicht nur durch den Feind von außen. Es ist der Feind von unten, der viel realer und zahlreicher ist. Fünfzig Jahre einer staatlich verordneten „affirmative action“ haben die 250 Millionen Unberührbaren nicht aus ihrem wirtschaftlichen und sozialen Notstand befreit. In den egalitären Lehrsätzen der anderen Religionen finden sie nun den Sprengstoff, der die Barrieren entfernen soll, die ein religiös verbrämtes Unrechtssystem um sie gelegt hat. BERNARD IMHASLY

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