Doppelleben als dritter Weg

Zerrissen zwischen Existenzängsten und der Furcht vor entfremdeter Arbeit: Vincent, der arbeitslose Held von Laurent Cantets „Auszeit“, inszeniert sich für Familie und Freunde als Angestellter in einem stressigen Top-Job bei der UN

Diesmal orchestriert Cantet die Konflikte geradezu, macht die vielen Stimmen hörbar, die Vincent antreiben

von CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK

Wie seinen ersten, Ressources humaines, zentriert Laurent Cantet auch seinen zweiten Langspielfilm um Scham. Und wieder verortet der 41-jährige Regisseur und Drehbuchautor ihren Ursprung – wenn auch nicht so prominent – in einer Vater-Sohn-Beziehung. Mit der Scham, einer ohnmächtigen Arbeiterklasse anzugehören, trieb er in Ressources humaines das Drama erst eigentlich an; in seinem jüngsten Film Auszeit gesellt sich der Schmach seiner Hauptfigur, den Job verloren zu haben, eine diffuse Angst hinzu.

Cantet legt diese Angst sehr präzise als doppelte frei, die nur ins Dilemma führen kann. Denn die den Plot auf den ersten Blick beschleunigende Existenzangst des Arbeitslosen führt – so erfährt man nach und nach – die Angst vor unbefriedigender Tätigkeit im Gepäck. Und Cantet siedelt auch diesmal seine Tragödie punktgenau dort an, wo sie sich in der Realität gegenwärtiger Arbeitsverhältnisse am häufigsten findet: in der Mittelklasse.

Ein frei stehendes Einfamilienhaus mit Garten, eine teilzeitbeschäftigte Frau (Karin Viard), drei Kinder und Eltern, mit denen er regelmäßig Kontakt hat: Dazu hat es Vincent in seiner elfjährigen Tätigkeit als Consultant gebracht. Mit dem Namen verband sein Vater wohl einst Hoffnung in die Zukunft, die eigenen Kinder nennt man dann Felix oder Alice, als sei‘s ein Omen.

Doch was wir zuerst von Vincent sehen, ist der Fond des Wagens, in dem er einen großen Teil seiner Zeit verbringt. Mit sichtbarem Genuss fährt er Tag für Tag darin umher, liefert sich Wettrennen mit Zügen, singt wie befreit die Songs im Radio mit. Und alle paar Stunden telefoniert er mit seiner Frau, das Handy machts möglich.

Wir hören Vincent von Terminen mit Kunden erzählen, von Stress und Verspätung zum Abendessen. Alles was er sagt: ein Versprechen. Die Worte sind gefärbt von zahlreichen Filmen, die um Ehebruch kreisen. Nur dass sie diesmal allein der perfekten Inszenierung eines ganz normalen Angestelltenlebens dienen. Denn den aufreibenden Job, von dessen Alltag er zu seiner Frau spricht, hat Vincent schon vor Monaten verloren.

Und der Schauspieler Aurélien Recoing schafft das Unmögliche: diese Darstellung des eigenen Lebens Szene für Szene anstrengender aussehen zu lassen, als es der Job, von dem die Rede ist, je sein könnte. Bald ersinnt sich Vincent eine neue Anstellung. In der Schweiz, so lässt er die stolze Familie wissen, arbeite er jetzt bei der UN in einer Abteilung, die für die Entwicklung Afrikas private Investoren mit NGOs in Kontakt bringe. Seinem Vater soll das gefallen. Doch der möchte lieber diskutieren, ob man denn damit wirklich die Welt verändern kann. In wenigen Sätzen lässt Cantet hier das ganze Drama eines Kampfs um Anerkennung anklingen.

Vincents Flucht in die Schweiz, die Cantet mit märchenhaften Schneelandschaften untermalt, gerät jedoch immer tiefer in die Sackgasse. Den Vater hat er schon um 200.000 Francs angepumpt – angeblich, um sich ein Appartment kaufen zu können –, zahlreiche Freunde mit der Lüge eines zwar illegalen, dafür aber umso gewinnbringenderen Investmentgeschäfts in Osteuropa um Unsummen betrogen. Doch was das Schlimmste ist: Auch seine Frau wird zunehmend misstrauisch.

Immer tiefer schliddert Vincent in die Katastrophe. Auszeit verrät dem Publikum nicht nur, was dieser weiß, sondern auch, was nach und nach andere über ihn erfahren, und so gerät die Familientragödie mehr und mehr zum Thriller. Ressources humaines wirkte oft hölzern, wenn es um die Erdung des Dramas in ambivalenten Gefühlen ging. Doch diesmal orchestriert Cantet die Konflikte geradezu, macht die vielen Stimmen hörbar, die Vincent antreiben: die ökonomischen Notwendigkeiten, die familiären Anforderungen, die sozialen Anordnungen, den Anspruch auf wenig entfremdete Arbeit, den Wunsch, frei zu sein, vor allem aber die Widersprüche, die all das zwangsläufig hervorbringt.

So etwas konnte Ken Loach in seinen besten Filmen – und mit ihm nur wenige. Inzwischen findet es sich auch bei jüngeren Filmemachern, vor allem im französischsprachigen Kino, etwa bei Luc und Jean-Pierre Dardenne (Rosetta), Mehdi Charef (Marie-Line) oder Bruno Dumont (L‘humanité). „Ich habe keine Angst“, wird der letzte von Vincent gesprochene Satz in Auszeit sein. Doch aus Recoings flatternden Blicken spricht abermals die Lüge.

Do, 21.15 Uhr, Sa, 17 Uhr, So + Mi, 19 Uhr, nächste Woche 14., 16. + 18.11., 21.15 Uhr, 15.11., 17 Uhr + 17.11., 19 Uhr, Metropolis