Wie komme ich hier raus?

Aufgewachsen in der Provinz. Jede Menge Erfahrungen aus einer anderen Welt. Heimatliches vor winterlichen, ja weihnachtlichen Tagen. Ein mono.mag von KOLJA MENSING (Text) und THOMAS DASHUBER (Fotos)
Ortstermin

Wo in der Welt gibt’s richtig guten Kaffee?

Sie hatten sich in einem Café in einer Seitenstraße des Piccadilly Circus verabredet. Michael besuchte einen Freund, der in London lebte, und weil Steffi gerade ein Praktikum bei einer Consultingagentur in der Stadt machte, hatte er sie angerufen. Sie hatte das Café ausgesucht.

„Hübsch“, sagte Michael.

„Die Besitzer sind Franzosen“, sagte Steffi, „du musst lange suchen, wenn du in London guten Kaffee trinken willst.“

Das Praktikum gefiel ihr. Sie erzählten sich, was seit ihrem letzten Treffen in einer Pizzeria in Berlin vor einem halben Jahr passiert war, und redeten über einige gemeinsame Bekannte von früher. Dann bestellten sie noch zwei Latte Macchiato und begannen mit dem Spiel, das sie jedes Mal spielten, wenn sie sich trafen.

Steffi eröffnete: „Komisch, oder? Ein paar Wochen London, und ich habe das Gefühl, ich bin schon ewig hier.“

„Willst du bleiben?“

„Warum nicht? Wenn sie mich in der Firma länger wollen …“

Michael nickte. Das Spiel hieß „Ortswechsel“, und es ging darum, sich gegenseitig davon zu überzeugen, dass man mit dem Leben in der Provinz endgültig abgeschlossen hatte. Manchmal gewann Steffi, manchmal Michael. Diesmal sah es für ihn nicht so gut aus.

„Ich habe das Gefühl“, sagte Steffi und streute vorsichtig Zucker in ihren Kaffee, „dass ich mit jedem Umzug unendlich viel Ballast verliere.“

Michael sagte nichts. Steffi rührte in ihrem Kaffee.

„Ich habe es gestern mal nachgezählt. Es ist inzwischen das sechste Mal, dass ich umziehe.“

Eins zu null. Michael war erst dreimal umgezogen, seitdem er vor einigen Jahren die Kleinstadt verlassen hatte, in der Steffi und er zusammen zur Schule gegangen waren. Der Punkt ging an sie. Er überlegte, ob er die Gültigkeit ihrer Praktika anfechten sollte, von denen schließlich keines länger als zwei Monate gedauert hatte, aber die Blöße wollte er sich dann doch nicht geben.

Michael versuchte, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben: „Und zu Hause?“

„Nichts Neues. Und bei dir?“

Sie redeten über einen ehemaligen Mitschüler, der gerade geheiratet hatte.

„So richtig, mit Nachbarn und Verwandten. Könntest du dir das vorstellen?“

„Gott sei Dank hat er uns nicht eingeladen.“

„Ich wäre ja eh in London gewesen“, sagte Steffi.

Noch ein Punkt für sie. Aber Michael hatte Glück.

Steffi sagte: „Wahrscheinlich läuft man den beiden ja Weihnachten über den Weg.“

„Ich fahre Weihnachten nicht nach Hause“, sagte Michael. „Wir sind in Italien, bei den Eltern meiner Freundin.“

„Cool“, sagte Steffi, und für einen Moment hätte man meinen können, dass sie sich ärgerte: „Was macht denn deine Freundin?“

Zwei zu eins. Michael holte auf. Weihnachten nicht nach Hause zu fahren, wog mindestens so viel wie zwei Umzüge, denn Weihnachten fuhr schließlich jeder nach Hause. Steffi schien zu ahnen, dass sie ihren Vorsprung nicht länger verteidigen konnte. Sie winkte dem Kellner.

„Ich muss dann. Ich bin noch mit ein paar von den Leuten aus dem Office in Kensington verabredet“, sagte sie, während sie das Geld abzählte: „Ich ruf dich an. Deine alte Nummer hast du noch, oder?“

Vor dem Fenster war es inzwischen dunkel geworden. Die Straßenbeleuchtung brannte, und direkt vor dem Café bremste ein Taxi scharf vor einem Zebrastreifen. Michael nickte missmutig. Natürlich hatte er seine alte Nummer noch. Drei zu eins.