Wo das Handy Polnisch spricht

Im Oderbruch, da wo Deutschland fast zu Ende ist, zeigt sich die Einsamkeit der Randlage von ihrer besten Seite. Weites Land und Kulturgeschichte faszinieren selbst die Bewohner. Wetterfeste Wanderer kommen auch an Herbsttagen auf ihre Kosten

von VERENA MÖRATH

Ein herrlicher Ausflugstag, wäre da nicht dieser Wind. Eine Gruppe warm verpackter Wanderlustiger, ausgerüstet mit Lunchpaketen, steht auf dem Parkplatz bei Zollbrücke, in der Gemeinde Zäckericker Loose, und schaut skeptisch zum Himmel. Der zeigt sich mal blau, mal stahlgrau wie ein blank geputztes Backblech. Wenigstens regnet es nicht. Wanderführer Gerhard Rumland inspiziert mit kritischem Auge unser Schuhwerk. Nur ein Ehepaar aus Berlin trägt Kleidung, die eher nach einem Schaufensterbummel aussieht, die meisten anderen zeigen brav auf ihre stabilen Wanderschuhe und zupfen an ihren Regenjacken.

Nur ein paar Schritte bräuchte man, um an den Fluss zu kommen. „Das wäre aber zu schnell“, meint Rumland, der für seine Tätigkeit als Wanderführer im brandenburgischen Märkisch-Oderland den passenden Nachnamen trägt. „Wir wollen das Oderbruch entdecken, nicht nur den Deich.“

Es geht los. Knappe drei Stunden wollen wir ins Oderbruch hineingehen und schließlich flussaufwärts auf dem Deich wieder nach Zollbrücke zurückkehren. Die Wanderung reicht gerade mal aus, um einen kleinen Zipfel des Oderbruchs kennen zu lernen, das mit Auen, Deichen und Fließen in der Länge rund 60 und in der Breite 20 Kilometer misst. Immer an der Oder, an der polnischen Grenze entlang.

Wir folgen einem schlammigen Pfad, der auf die Felder führt. Vor der Trockenlegung des Bruchs im 18. Jahrhundert wurde dieses Gebiet zweimal im Jahr überschwemmt. Auf wenigen Sandinseln lagen kleine, von Fischerfamilien bewohnte Siedlungen. „So ähnlich wie im Spreewald sah es hier aus“, meldet sich ein Rentner aus Jüterbog zu Wort. Von Wanderführer Rumland erfahren wir, dass Friedrich der Große die Urbarmachung des Oderbruchs ab 1747 vorangetrieben hat. Dafür siedelte er im Gebiet tausende Kolonisten, vor allem Franzosen und Holländer, zu günstigen Bedingungen an. In nur wenigen Jahren entstand eine der fruchtbarsten Agrarlandschaften Deutschlands mit Getreide-, Kartoffel-, Rüben- und Gemüseanbau und Viehwirtschaft. Der Boden des Oderbruchs gilt noch heute als gute, wenn auch als schwer zu beackernde Scholle.

„1947 hat hier zum letzten Mal alles unter Wasser gestanden“, schreit Rumland gegen den Wind an. Als Neunjähriger hatte er das Hochwasser miterlebt, fast fünf Monate lang.

Wir ziehen querfeldein. Nur schmale Gräben und Kanäle unterbrechen das Grün der Wiesen und Felder. Vereinzelt sieht man ein Gehöft, hier und da säumen Baumalleen den Weg. Kein Mensch weit und breit. Alle ziehen ihre Kapuzen tiefer ins Gesicht, weil der Wind noch heftiger weht. Die Sonne tunkt die weite Landschaft in ein mildes Herbstlicht mit satten Farben. Über uns sammeln sich schnatternd Wildgänse zu einem großen V, um die nächste Etappe in Richtung warmer Süden zu schaffen. „Manchmal sieht man hier Seeadler und die seltenen Schwarzstörche!“, schwärmt Gerhard Rumland. Wir entdecken nur unser Abendessen: Wiesenchampignons und Schirmpilze, die schnell in Plastiktüten und Rucksäcken verschwinden.

Auf unserer Route liegt der Ziegenhof Zollbrücke. Schon von weitem stechen uns die Deutschen Weißen Edelziegen ins Auge. Ziegenwirt Michael Rubin hat 175 Tiere in seiner Obhut. „Auf 25 Ziegen kommt ein Bock“, belehrt er uns. Der Bock darf im August „unkontrolliert in der Herde mitlaufen und im Januar wird dann abgelammt“. Im letzten Jahr kamen 140 Lämmer auf die Welt, davon 50 alleine am Silvesterabend. Vor seinem modernen Laufstall stehend, der sicherlich mollig warm ist, lernen wir weiter, dass den Ziegen bei kaltem Wind der Kopf gefährlich dick anschwillt. Auch wir leiden und treten von einem Bein auf das andere. Im kleinen Hofladen wärmen sich alle kurz auf und decken sich mit Bio-Ziegenkäse ein.

Die letzte Etappe führt über eine Wiese, dann sind es nur noch einige Minuten bis zur Oder. Der imposante Fluss grenzt hier direkt an ehemaliges militärisches Sperrgebiet der DDR. Mit Schwung nehmen wir die Steigung und stehen bald auf dem Deich – zugleich auf dem längsten, gerade neu asphaltierten Radweg Deutschlands. Bis zum Oderhaff und dann weiter an die Ostsee kann man auf den Flussdeichen radeln.

Eine wunderbare Flusslandschaft breitet sich aus, mit olivgrünen Weiden und mauerhohem Schilf, der Deich einladend begrünt. „Es wurden wieder Lachse in der Oder ausgesetzt“, hören wir. Es sei ein Experiment, um festzustellen, ob sich die Wasserqualität der Oder wirklich positiv entwickelt habe. Rumland blickt in die Zukunft: „Ist das Gewässer in vier Jahren optimal, werden auch Störe ausgesetzt und wir haben vielleicht bald unseren eigenen Kaviar.“

Beeindruckt von solch rosigen Zukunftsaussichten wandern wir flussaufwärts. Angler haben sich am Ufer postiert. Das Dorf Zollbrücke – vereinzelte Fachwerkhäuser, ein Gasthaus und ein kleines Museum im alten Dammmeisterhaus – wird sichtbar. Die Brücke über die Oder, die dem Ort den Namen gab, existiert schon lange nicht mehr. Mein Handy klingelt: Ein polnischer Netzbetreiber heißt mich willkommen. So schnell ist man heutzutage im Ausland, ohne eine Grenze zu passieren.

Anreise: Per Bahn/Fahrrad: Mit der S-Bahn 4 nach Bernau, von dort mit der Regionalbahn 7 bis Wriezen. Dann noch 15 km radeln über Altreetz durch das Oderbruch bis Zollbrücke. Mit dem Auto: Über den Berliner Ring nach Strausberg, weiter nach Wriezen in Richtung Letschin und Altreetz nach Zollbrücke.Geführte Wanderungen: Die Preise liegen bei 15 bis 20 Euro pro Stunde. Infos unter (0 33 45 49) 40 41.Eine neue Rad- und Wanderkarte für drei Euro ist zu beziehen über den Tourismusverband Märkisch-Oderland e. V., Postfach 28, 15301 Seelow, Tel. (0 33 46) 15 07 01. Weitere Informationen zum Märkisch-Oderland unter www.mol-t.de