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Politik statt Schlagwörter

Antiglobalisierung ist ein Pseudokonzept: Beim Nachdenken über die Zukunft einer instabilen Welt bringt uns der Begriff nicht weiter. Ein Essay von FRANÇOIS DE BERNARD

Der Begriff „Antiglobalisierung“ kann uns nur von dem entfernen, dem wir uns annähern müssen

Es gibt Begriffe, die jede Debatte abtöten – und „Antiglobalisierung“ ist einer von ihnen. Von Seattle bis Kananaskis über Davos und Porto Alegre, Quebec, Genua, Washington bis nach Florenz unterstellt er, die widersprüchlichsten, problematischsten Haltungen, Theoretisierungen und Äußerungen seien alle zusammen vernünftig.

Das Schlagwort „Antiglobalisierung“ lässt Standpunkte unnötigerweise erstarren. Es produziert Dissens an Stellen, wo Vorsicht erlauben würde, eine widersprüchliche Debatte zu führen – und schließlich sogar so etwas wie eine Politik zu entwickeln. „Antiglobalisierung“ vernachlässigt sowohl die Komplexität der zu diskutierenden Fragen als auch die Mühen zahlreicher Akteure, die ernsthaft daran interessiert sind, diese Komplexität so weit zu reduzieren, dass sie verständlich wird. Dort, wo sich ein außermoralisches Urteil als unendlich wertvoll erweisen würde, bietet „Antiglobalisierung“ sich den in Mode gekommenen Diskursen an – als Triebkraft einer Moral, die sich über Wissen lustig macht.

Die Kategorie Antiglobalisierung ist in jeder Hinsicht trügerisch. Sie macht aus der Globalisierung etwas, woran es nichts zu zweifeln gibt. Zudem unterstellt sie Kritikern der Globalisierung pauschal eine Gegnerschaft – also etwas, was eindeutig und klar abgrenzbar ist. Aber Globalisierung ist nicht etwa eines von vielen diskutierbaren Konzepten. Diejenigen, die unter der Parole Antiglobalisierung gegen sie protestieren, haben meist sehr konkrete Kritik und sprechen sich selten gegen Globalisierung an sich aus. Ihre Kämpfe richten sich gegen globale oder regionale Bestrebungen nach Privatisierungen öffentlicher Bereiche, gegen ein In-Frage-Stellen sozialer Errungenschaften, eine weitere Liberalisierung des Weltmarkts, Börsen- und Geldspekulation, Bedrohungen der Umwelt, kulturellen Imperialismus … aber immer weniger: gegen die Globalisierung im Singular.

Dabei spürt jeder, dass die Globalisierung weder eine klare Tatsache noch ein Monolith ist, sondern im Gegenteil viele, sehr kontrastreiche Gesichter offenbart. Die wirtschaftliche und finanzielle Globalisierung wird von der Mehrheit der Kritiker abgelehnt, während die Mondialisierung der Bildung, der Informationen, der Solidarität, der Widerstände dagegen von einer ebenso großen Mehrheit befürwortet werden. Deshalb lehnen Instanzen wie das in Porto Alegre aus der Taufe gehobene Weltsozialforum es richtigerweise ab, verzerrt als Treffen von „Antis“ dargestellt zu werden. Vielmehr verstehen sie sich als Zusammenkünfte, bei denen andere Formen der Globalisierung, andere Modalitäten für wirtschaftliche, kulturelle, soziale und politische Beziehungen erarbeitet werden als jene vom Paradigma der laufenden „Globalisierung“ aufgezwungene. Die Verwendung der Kategorie „Antiglobalisierung“ schadet diesem Anspruch, denn ihr Gebrauch hält den gerade beginnenden Dialog zwischen Globalisierern und Globalisierungskritikern für an sich unwahrscheinlich – ganz so, als ob es bloß zwei Standpunkte gäbe.

Diese Antiglobalisierung wirft zugleich Fragen auf, die keine sind, und gibt Antworten, die diesen Begriff nicht verdienen. Sie sieht und hört das, was während der Demonstrationen gegen die G-8-Mächte, die EU, die amerikanische Freihandelszone FTAA, den IWF oder die Weltbank passiert. So rücken Sicherheitsprobleme, Polizeimaßnahmen, ballistische Diskussionen und Ähnliches in den Rang eigentlicher Probleme auf, während für Inhalte kaum Zeit bleibt. Die unabdingbare, kritische Reflexion der zum Teil sehr kontroversen Projekte, die von verschiedenen, oft am wenigsten ideologischen Akteuren der globalisierungskritischen Bewegungen mit Beharrlichkeit geleistet werden muss, droht unter den Tisch zu fallen.

Globalisierung ist keine klare Tatsache und kein Monolith; sie hat sehr viele, sehr kontrastreiche Gesichter

Zudem ist der Begriff „Antiglobalisierung“ völlig ignorant gegenüber gegenüber Entwicklungen von Standpunkten oder Dogmen der einen oder anderen Gruppe und auch gegenüber dem von vielen geteilten Wunsch, konkret gegen das anzugehen, was wirklich wütend macht; mit der Suche nach den wirklichen Motiven der wirklichen Konflikte voranzukommen – und nicht bei der Beschreibung stehen zu bleiben. Über all diese winzigen und gerade deshalb spektakulären Bewegungen macht sich der abgenutzte Begriff „Antiglobalisierung“ lustig.

Schließlich ist die Kategorie „Antiglobalisierung“ tödlich, weil ihre imaginäre Gewalt reelle Folgen erzeugt, die über Erwartungen und normative Kontrollmechanismen hinausgehen. Das konnte man im Juli 2001 in Genua auf emblematische Art und Weise feststellen, wo ein als „Antiglobalisierer“ kategorisierter jugendlicher Demonstrant zum Feind der Gesellschaft, zum Straffälligen, zum Terroristen wurde. Durch seine angebliche Ablehnung von Begriffen wie „freie Welt“, „Fortschritt“, „Demokratie“ charakterisierte er eine absolute Negativität, auf die man mit allen möglichen Mitteln und vor allem mit unerbittlicher Härte reagieren musste. Denn der „Antiglobalisierer“ erschien als personifizierte Infragestellung einer Ordnung, die zwar nicht perfekt, aber stabil, solide, effizient ist und auf die die gewöhnlichen Bürger verzichten müssten, um den Sprung ins Ungewisse zu wagen. Genau in diesem Zusammenhang schien er auf martialische Art und Weise bekämpft werden zu müssen – mit den Methoden Argentiniens und Chiles der Siebzigerjahre in den Straßen von Quebec oder Washington, wenn nicht gar in den Bergen von Kananaskis. All das dank eines Begriffs, der vorgibt, etwas zu sein, was er gar nicht ist: klar.

Wenn man nun mit der „Antiglobalisierung“ aufräumen will, reicht es nicht, sie durch ein anderes Wort zu ersetzen, das erneut seinen Markt auf den gleichen Pfaden erobert. Es gibt in der Tat Besseres und Anspruchsvolleres zu tun. Das würde mit der Anerkennung der Tatsache beginnen, dass das, was sich hinter der Idee „Globalisierung“ verbirgt, alles andere ist als eine Zusammenkunft von Zynikern und Naivlingen, die uns nichts weiter als eine Tag für Tag trostlosere Chronik präsentieren können.

Sie könnte mit der Erkenntnis fortfahren, dass die tiefgründigen Konflikte, die mitten in den sich entwickelnden Globalisierungen am Werk sind, außer der Tatsache, so normal wie wünschenswert zu sein, an sich „multilateral“ (ein weiteres missbrauchtes Wort) sind – und außerdem nicht auf eine binäre Inszenierung (mit alternierendem Wechsel zwischen den „Guten“ und den „Bösen“) reduziert werden können. Sie dauert an mit der durch Erfahrung erworbenen Überzeugung, dass die Privatisierung der globalisierten Welt sich durch die beschleunigte Verbreitung bestimmter Münzen verstärkt und fortbesteht, die durch die Meister des Spiels geprägt, in Umlauf gebracht – und dann von denen aufgegriffen werden, die akzeptieren, damit zu spielen. Diese Münzen tragen Namen wie „Freihandel“, „Gouvernance“, „Marktwirtschaft“, „Produktivität“, „Wettbewerbsfähigkeit“, „Liberalisierung“, „Armutsbekämpfung“, „nachhaltige Entwicklung“, „Demokratisierung“ und eben: „Antiglobalisierung“.

„Antiglobalisierung“ unterstellt, die widersprüchlichsten Haltungen seien alle zusammen vernünftig

Wir brauchen heute sicherlich keine Pseudokonzepte wie diese, um über die Zukunft der instabilen und beunruhigenden Welt nachzudenken. „Antiglobalisierung“ kann uns nur von dem entfernen, dem wir uns annähern müssen. Wahre Konzepte wären: Alternative, Währungscode, Kommunitarismus, Kosmopolitismus, Würde, Dominierung, Emanzipation, Gerechtigkeit, Zersplitterung, Interkulturalität, Gedächtnis, Migrationen, Wissensteilhabe, Regulierung, Solidarität und Antitotalitarismus. Sie müssen wir uns aneignen, wenn wir den problematischen Sinn der aktuellen Globalisierungen verstehen wollen. Ist das zu viel verlangt von den ungeduldigen Erzählern der neuen Brüche?

Ob wir es wollen oder nicht: Wir können nicht lange unter dem Regime einer formellen Klassifikation gedeihen, die alle Kontroversen ausradiert, ohne eine davon zu lösen. Es ist somit an der Zeit, nicht nur auf eine Kategorie zu verzichten, die enttäuscht, verletzt und manchmal tötet; sondern obendrein, quasi als Antwort: den Gebrauch auszudehnen von zunächst unhandlichen Werkzeugen, von Konzepten, die der gültigen und übermäßigen Vereinfachung standhalten, von völlig neuen Fragestellungen, die sich nicht zu sehr mit den Globalisierungen zu befassen scheinen, die uns mit genauso viel Beständigkeit wie Ironie entkommen. Gerade wenn „Antiglobalisierung“ nicht existiert, muss die globalisierungskritische Bewertung mehr denn je bestehen.

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