„Ist doch grausam, ohne Nachbarn“

Baggerlärm und Geröllwüsten: Das Waller Parzellengebiet wird zum Gewerbegebiet oder zur neuen Kleingartensiedlung „bereinigt“. Die meisten Bewohner müssen weg. Eine Fleet-Bewohnerin sagt: „Die kriegen mich nicht hier weg“

Am Hohweg, da wo das Parzellengebiet beginnt, liegt auch die Sporthalle des TuS Walle. Im letzten Jahrzehnt feierte das Frauen-Handballteam des TuS mehrfach die deutsche Meisterschaft. Vergangenheit – genau wie große Teile des Parzellengebietes hinter der Halle. 83.000 Menschen bewohnten kurz nach dem Krieg die Kleingärten, heute sind es noch ein paar hundert. Und die sollen nach dem Willen des Senats bald ausziehen.

Wo vor vier Wochen noch Garten an Garten stand, ist heute schon alles Erd- und Geröllwüste. Walter Polz kennt sich aus. Seit 1936 lebt der 72-Jährige schon im Waller Parzellengebiet. Damit genießt er ein lebenslanges Wohnrecht. Wie alle, die vor 1974 hierher gezogen sind.

Für die anderen läuft die Frist bis spätestens 2004 – dann müssen die später Hinzugezogenen ausziehen. Das ist ein Teil des Senatsbeschlusses, nach dem das Waller Parzellengebiet jetzt bereinigt werden soll. Schon jetzt werden keine bewohnbaren Lauben neu vermietet. „Wenn ein Haus leer steht, soll es weg“, weiß Polz. „Da drüben“, sagt er und deutet auf ein Haus, das wie ein einsamer Zahn aus der Landschaft ragt, „wohnt Frau Meier. Die hat lebenslanges Wohnrecht und will auch nicht weg.“

Angenehm ist das Leben für Frau Meier aber nicht mehr. Die früheren Nachbarn sind weg, ihre Ruhe auch. Rund um das Haus wird gebaggert, die Bäume sind längst gefällt. Frau Meier wohnt in einem zukünftigen Gewerbegebiet. Derzeit lebt sie inmitten von Matsch, bald wird sie von Asphalt umgeben sein.

„Wenn die das alles versiegeln,“ glaubt Polz, stehen die Lauben unter Wasser.“

Polz hat es besser. Seine Umgebung wird als Kleingartengebiet erhalten bleiben. Trotzdem ist es absehbar, dass mit der Zeit immer weniger Lauben bewohnt sein werden: „Was sollen die dann noch hier? Ist doch grausam, so ohne Nachbarn,“ sagt Polz und steuert sein Auto auf das Waller Fleet zu.

Hier, das hat die Stadt gerade angekündigt, rücken in den nächsten Tagen die Bagger an. Dann werden die bereits leerstehenden Häuser auf den Parzellen abgerissen. „Ein schönes, intaktes Kleingartengebiet soll entstehen“, kündigte der Senat an. Auch wenn sie die Einsamkeit fürchtet, ist sich eine Fleet-Bewohnerin sicher: „Die kriegen mich nicht hier weg.“ Polz fügt hinzu: „Es ist schon sagenhaft, wie viele von den Alten in letzter Zeit ins Heim gekommen sind.“

Halb in Bauwagen, halb in Lauben wohnt die Laubenbande. Eine Gruppe von zwei Dutzend jungen Leuten, meist Studenten. Seit einigen Wochen ist ihre kleine Siedlung von der Straße aus gut zu erkennen – die Bäume, die sie vorher schützten, sind weg. Direkt nebenan entsteht demnächst eine chemische Fabrik. „Apokalyptisch, was hier passiert“, sagt Heinz, der seit drei Jahren auf dem Gelände wohnt. „Die Vögel rücken auf den wenigen Bäumen zusammen, die Maulwürfe treten sich auf die Füße.“ So lange es geht, wollen sie bleiben, „auch wenn es stressig ist, den ganzen Tag einen Soundtrack mit 90 Dezibel zu ertragen.“ Bis zum 15. Dezember „läuft die Gnadenfrist“ für die Laubenbande. Dann müssen die zwei Dutzend BewohnerInnen den Platz geräumt haben. Wohin, wissen sie nicht. „Eine Ausgleichsfläche ist im Gespräch, aber ob wir mit den Wagen im Winter durch den Matsch kommen, ist nicht sicher.“ Selbst die Räumfahrzeuge hätten es schwer, durchzukommen, ein Lastwagen blieb stecken, erzählt Heinz. Und: „Eins ist klar: Es wird Proteste geben, wenn wir geräumt werden.“ Ole Rosenbohm