Für eine Hand voll Zentimeter

Die Woche der Verlängerung: Borteneuphemismus kann nur in die Hose gehen

So lange der Mensch erst wenige Jahre zählt, geht alles gut. Seine Kleidung ist ihm nicht wichtig. Wichtig sind selbst erzeugter Lärm, die Hofkatze und vor allem Spielzeugautos. Der Mensch trachtet danach, so viele Spielzeugautos als möglich zu besitzen und sie durch die Gegend zu pfeffern. Währenddessen wächst er heran und auf. Dabei werden seine Beine länger und länger. Neue Hosen müssen her. Aus wirtschaftlichen Gründen kaufen Eltern die Hosen einige Nummern zu groß. Das fällt dem Menschen nicht auf. Noch verhindert die Windel, dass die Hose rutscht, und noch stört er sich auch nicht daran, dass der nach außen umgeklappte Hosensaum bis unters Knie reicht, lassen sich hier doch viele Spielzeugautos unterbringen.

Dann aber kommt der Tag der richtigen Hose. Einer Hose, die der Mensch sogar mit aussuchen durfte und die er stolz vorführt. Manchmal gehört zu dieser Hose auch ein schicker Gürtel. Diese Hose sähe aber sehr, sehr gut aus, hört der Mensch. Er freut sich, bis die Lieblingshose zum ersten Mal gewaschen wurde.

Die Hose ist kürzer geworden. Ein klitzekleines Stückchen nur, heißt es, das könne eben passieren, der Mensch aber verspürt Unzufriedenheit. Außerdem fühlt sich der Stoff nicht mehr so weich an wie nach dem Kauf. Er ist steif und die Farbe matt. Der Mensch trägt die Hose weiter, jedoch ohne Stolz.

Und auch nur kurze Zeit: Wieder wird die Hose kürzer. Mit der Wäsche hängt das nicht zusammen – der Mensch hat sich verlängt. Innerhalb einer Woche ist er weiter gewachsen, wie ein neuer Bleistiftstrich am Küchentürrahmen beweist. Der Mensch blickt auf diese Markierung und dann nach unten auf seine Hochwasserhose. Man kann seine Sockenränder sehen.

Die Ansichten über die Hose gehen jetzt weit auseinander. Sie ist untragbar, findet der Mensch. Andere Stimmen behaupten, die Hose sei viel zu schade zum Wegwerfen. Der Mensch muss ich auf einen Stuhl stellen. Flinke Finger kruschteln am Hosensaum herum, aus dem aber nichts herausgelassen werden kann. Der Mensch soll die Hose ausziehen. Sie werde nunmehr um eine hübsche Borte ergänzt.

Der Mensch wird sich später erinnern, niemals von einer Borte ohne Adjektiv gehört zu haben. In den Augen der herrschenden Meinung ist eine Borte immer eine hübsche Borte, selten eine schöne Borte und niemals eine hässliche.

Wenn der Mensch die Hose zurückerhält, reichen die Hosenbeine objektiv wieder bis auf die Füße. Der Mensch freut sich aber nicht darüber, dass ein Schachbrettmuster seine Knöchel umspielt, bloß weil er sich vehement gegen das Entenmotiv ausgesprochen hat.

Die Borte ist nicht weich wie die Hose einst war. Sie besteht aus dünnem, kratzigem Material und scheuert auf dem Spann, wenn man barfuß läuft. Sie leuchtet weithin, auf Kilometer, und sie scheint unverwüstlich.

Neid erfüllt den Menschen. Er entdeckt die Zweiklassengesellschaft, die der Hosen- und die der Bortenträger. Es tröstet ihn nicht, an fremden Hosenbeinen Borten zu entdecken, nicht einmal welche mit Entenmuster. Eine Borte ist eine Borte ist eine Borte: das Erkennungszeichen der Machtlosen und Gedemütigten.

Da es weiterhin zu kalt ist für kurze Hosen, wie von offizieller Seite mitgeteilt, bleibt dem Menschen nur ein Ausweg. Er muss wachsen. Er muss erkennbar länger als die bortenbesetzten Hose werden, damit eine neue, bortenlose Hose angeschafft werden kann.

Es gelingt. Abermals unterschreitet die Hosenlänge die Norm. Eine doppelte Borte, so will es selbst das Gesetz, kommt nicht in Frage. Es wird eine neue Hose geben – und neue Erkenntnisse darüber, wie dicht Glück und Tragik beieinanderliegen. Noch hat niemand die schreckliche Wahrheit ausgesprochen, dass nun alle anderen Hosen das bortenreife Alter erreicht haben.

CAROLA RÖNNEBURG