Sonne über Samsø

In nur fünf Jahren hat es die dänische Ostseeinsel geschafft, komplett auf erneuerbare Energie umzustellen. Dafür erntet sie den stolzen Titel „Regenerative Energieinsel Dänemark“, den Europäischen Solarpreis – und das Unverständnis der konservativen Regierung in Kopenhagen

von HEIKE HAARHOFF

Über die Blaubeeren lacht schließlich heute auch keiner mehr. Und genauso wird es in ein paar Jahren mit dem Stroh sein. Alle, die den Bauern Arne Kremmer Jensen jetzt für spinnert halten, weil er sich millionenschwer verschuldet hat für ein strohbetriebenes Fernwärmekraftwerk, mit dem er angeblich von diesem Winter an Onsbjerg, ein ganzes Dorf, heizen kann – billig und verlässlich, glaubt man seinen Worten –, werden sich dann schon noch vor Bewunderung die Augen reiben.

Arne Kremmer Jensen, sechzig Jahre, Landwirt in der dritten Generation auf der Ostseeinsel Samsø, liebt Experimente, vor allem aber hat er einen Riecher für erfolgversprechende Investitionen. In den Neunzigerjahren, als ihm die Idee mit dem Blaubeersaft kam, bepflanzte er kurzerhand 140 Hektar mit den sommergrünen Zwergsträuchern, fast ein Viertel seines Landes. Auf dem waren bis dahin Kartoffeln, Kürbis, Korn gediehen, also das, was ein Bauer auf dem Inselboden vernünftigerweise gedeihen lässt. Er erntete Spott, später die Einnahmen aus einem revolutionierten dänischen Getränkemarkt und fand schließlich Nachahmer: Heute haben fast alle Bauern Samsøs die Blaubeeren für sich entdeckt.

Und nicht anders, sagt Arne Kremmer Jensen so zuversichtlich, als handele es sich um eine alte Bauernregel, dürfte es sich mit seinem neuen Strohfernwärmekraftwerk verhalten. Der Ofen, der gedroschene Getreidestängel verbrennt, werde sich zwar kaum in eine Goldmine verwandeln, sei aber ein gutes, berechenbares Unternehmen. Ein ökologisches dazu, unabhängig von Staat, Politik, Ölpreis. „So etwas“, sagt Arne Kremmer Jensen, „mögen die Menschen von Samsø.“

Die Menschen von Samsø. Bis zu 25.000 Dänen, Deutsche, Schweden bevölkern die Insel im Sommer, wenn die Strände zum Baden, die Hügel zum Reiten, die Buchten zum Angeln einladen. Im restlichen Jahr zählt Samsø 4.300 Einwohner. 1997 erfuhren die, dass die damalige sozialdemokratische Regierung in Kopenhagen einen Wettbewerb unter dänischen Inseln ausgeschrieben hatte: einen Plan zu entwickeln, wie der insulare Energieverbrauch binnen zehn Jahren komplett durch erneuerbare Energien gedeckt werden könnte, und zwar in den Bereichen Strom, Heizung und Verkehr. Der Gewinner würde fortan den stolzen Titel „Regenerative Energieinsel Dänemark“ tragen und nebenbei mit erklecklicher Förderung und staatlichen Krediten rechnen dürfen. Den während der ersten UN-Klimaschutzkonferenz 1992 in Rio vereinbarten Zielen sollten Taten folgen.

„Wir hatten anderthalb Monate Zeit für die Bewerbung.“ Aage Johnsen, heute Manager der „Samsø Energiselskab“, der mittlerweile die Projektleitung obliegt, sieht immer noch aus, als sei er in Eile: das Gesicht schmal, die Statur hager, der Blick unruhig. Die Consultingfirma aus Arhus, für die er 1997 arbeitete, war von der Regierung ausgewählt worden, binnen sechs Wochen das Konzept für Samsø vorzulegen. Aage Johnsen ist ehrgeizig. Er wollte, dass Samsø den Zuschlag erhält. Er kannte die Insel gut, er mochte sie. Aber er stammt nicht von ihr. Zeit, sich und sein Anliegen vorzustellen, blieb ihm kaum: „Es war doch ein Wettbewerb. Wir konnten nicht jede Idee mit den Einheimischen öffentlich diskutieren, sonst hätten unsere Konkurrenten am Ende noch Wind davon bekommen.“

Umso größer war die Skepsis, als Aage Johnsens Plan den Wettbewerb gewann. Bis 2008, so erfuhren die Einwohner, solle an allen Ecken und Enden der Insel gebaut werden, elf Windräder mit je einem Megawatt an Land, um den Strombedarf der Insel zu decken. Bislang war der Strom aus Kohlekraftwerken in Jütland per Kabel nach Samsø gekommen. Zusätzlich entstehen sollten mindestens zwei mit Biomasse betriebene Fernwärmekraftwerke, ein zentrales Solarkraftwerk sowie individuelle Solaranlagen auf Dächern, um die Häuser zu heizen und mit heißem Wasser zu versorgen. Bislang hatten die Samsøer dazu Öl benötigt. Die größte Herausforderung aber stellte der Wandel im Bereich Verkehr dar: Die Hoffnung, die Insulaner dazu überreden zu können, ihre Autos zu verschrotten und stattdessen auf Elektrogefährte beziehungsweise Solarfähren umzusteigen, begrub Aage Johnsen schon damals. Er wollte sich nicht lächerlich machen. Stattdessen schlug er einen Offshorewindpark mit zehn Mühlen à zwei Megawatt vor der Südküste Samsøs vor. Sozusagen als Kompensation für den traditionellen Energieverbrauch im Bereich Transport. Gesamtinvestitionsvolumen: 49 Millionen Euro.

Aage Johnsen wohnte noch nicht auf der Insel, das Misstrauen war groß, und dagegen hatte er nur eine Chance: Er zog nach Samsø, ließ sich für seine „verrückten Ideen“ beschimpfen, setzte auf Geduld und Überzeugungskraft. Gemeinsam mit Søren Hermansen von der staatlichen Energieberatungsstelle Samsø zog er von Dorf zu Dorf, lud ein zu Informationsveranstaltungen, hörte sich Sorgen und Ängste an, zeigte Computersimulationen der neuen Anlagen und wie sie sich wunderbar in die Landschaft einpassen würden, zog sie alle mit ins Boot: die Gewerbetreibenden, den Tourismusverband, die örtlichen Vereine, die Gemeindeverwaltung und, entscheidend: die Bauern. Seit Jahrhunderten sind sie die eigentliche politische Kraft auf Samsø. Aage Johnsen mag Ingenieur und Fachmann sein; Bauern sind Herr über Grund und Boden der 144 Quadratkilometer großen Insel. Ihnen gehören Ferienhäuser, Bauunternehmen, Holz- und Immobilienhandel, kurz: Macht und Kapital. Ihre Partei, einfacherweise Bauernpartei genannt, stellt traditionell den Inselbürgermeister. Aage Johnsen war auf die Landwirte angewiesen: als private Investoren, als Multiplikatoren. Freiwilligkeit statt Ökodiktatur, so lautete von Anfang an die Maxime auf Samsø. Für deren Umsetzung ist die Insel in diesem Herbst mit dem Dänischen Solarpreis auszeichnet worden, und sie gehört auch zu den Gewinnern des Europäischen Solarpreises.

Arne Kremmer Jensen ist sich seiner Rolle bewusst. Er zwinkert vergnügt mit den wasserblauen Augen, streicht sich die derbe Arbeitsjacke überm Bauch glatt, stößt mit kräftigen Händen, gezeichnet von jahrzehntelanger Feldarbeit, das Tor zur Scheune in Onsbjerg auf, in der die Fernwärmeanlage steht: Strohballen bis unter die Decke. Daneben ein Förderband, darauf, meterhoch gestapelt, Strohballen. Sechs Tonnen reichen, um das Dorf Onsbjerg, 136 Haushalte plus Grundschule, eine Woche lang zu heizen und mit heißem Wasser zu versorgen. Ein Ballen wiegt fünfhundert Kilo.

„Für uns ist das ein ganz neuer Arbeitsbereich“, sagt der Bauer. Als er gefragt wurde, ob ihn die Investition reizen könne, habe er nicht lange überlegt. Schon vor zwei Jahren, als Privatinvestoren für die elf Windräder – eine Million Euro das Stück – gesucht wurden, hatte sich Kremmer Jensen gemeldet. Die Gemeinde jedoch gab neun anderen Bauern mit günstigeren Standorten den Vorzug, zwei weitere Mühlen gingen in den Besitz von Kleingenossenschaften über. Die staatlich garantierten dänischen Abnahmepreise für Strom aus Windenergie lohnen. Und nun das verlockende Angebot, eine Anlage zu bauen, an die er sein eigenes Stroh verkaufen kann, das er sonst doch nur auf seinen Äckern untergräbt! Arne Kremmer Jensen unterschrieb. 8,5 Millionen dänische Kronen (rund 1,1 Millionen Euro) hat die Gesamtanlage gekostet; drei Millionen Kronen davon werden gefördert, die restlichen 5,5 Millionen Kronen finanziert er über einen Kredit. Für den wiederum bürgt die Gemeinde Samsø. „Geht es wider Erwarten schief, muss die Gemeinde geradestehen“, stellt er klar.

Über das Förderband gelangt das Stroh in einen Häcksler, an den sich ein Rohr anschließt, das die klein geschnittenen Stängel ansaugt und in einen Trichter schleust, wo eine zweite Zerkleinerung stattfindet, bevor das Stroh unter ständiger Luftzufuhr in den Kessel gelangt. Die Flammen lodern hellgelb. Sie heizen das Wasser, das die Anlage durch einen geschlossenen unterirdischen Rohrkreislauf und siebzig Grad heiß in Richtung Verbraucher verlässt, bevor es von dort, auf 32, 33 Grad abgekühlt, zurück in die Kremmer-Jensensche Scheune fließt. Man könne die Fernwärmeanlage je nach Bedarf problemlos rauf- und runterfahren, erklärt der Bauer, und sollte es trotzdem mal eine Panne geben, stehe ersatzweise ein Öltank zum Beheizen des Wassers bereit. Asche ist das einzige Abfallprodukt. Der Bauer nutzt sie als Dünger.

In diesem Herbst gleicht Onsbjerg einer einzigen Großbaustelle. Die Straßendecken von Kirkevej, Søndergade, Smedevej, Stadionsvej, Doktorgyden und wie die Straßen der Ortschaft im Herzen der Insel alle heißen: aufgerissen, zerlöchert oder gerade mit Teer und Asphalt wieder notdürftig geflickt. Ein neues Leitungssystem musste unterirdisch verlegt werden, damit die Fernwärme die Haushalte erreichen kann, doch dank der staatlichen Förderung kostet der Anschluss ans Fernwärmenetz nur hundert dänische Kronen, dreizehn Euro, pro Teilnehmer. Ein Nichts. Bereits achtzig von 136 Haushalten haben sich seit August, seit Inbetriebnahme des Kraftwerks, auf eigenen Wunsch anschließen lassen. Vorher versorgte sich jeder Haushalt individuell; die meisten mit Heizöl, einige mit Holz, wenige heizten mit Strom. Das dürfen sie auch weiterhin, aber es ist teurer: Mindestens 350 Euro Heizkosten jährlich, das haben die staatlichen Energieberater ausgerechnet, werde ein durchschnittlicher Vierpersonenhaushalt künftig dank der Fernwärme sparen.

Zwei Jahre hat Ketty Gerstrøm auf die Fernwärme gewartet. In ihrem Vorgarten im Østervangen 7 türmen sich spinnennetzumwobene Rohre, ein alter Brennofen, Mörtel und Schutt, und Ketty Gerstrøm, fünfzig Jahre, glühen die Wangen, als habe der Weihnachtsmann persönlich ihr diese Bescherung gemacht. „Zwei Jahre“, murmelt sie vor sich hin. Zwei Jahre, in denen Ketty Gerstrøm, Verkäuferin in einem Baumarkt und nach Feierabend Organisatorin von Kindergeburtstagen, Altenausflügen, Basaren, Dorffesten, Krippenspielen, auf Bürgerversammlungen für die Vorzüge der Fernwärme warb. Weil sie Geld und Energie spart, weil es sich lohnt, wenn alle mitziehen. Beim Umstellen von Öl auf Fernwärme, sagt Ketty Gerstrøm, müssen nur die alten Öltanks raus und die Heizkessel ausgetauscht werden, die Heizkörper in den Wohnungen dagegen können bleiben. Einen Tag dauern die Umbauarbeiten pro Haus. Und trotzdem passiert auch in Onsbjerg, was in scheinbar konfliktfreien, vorbildlichen, demokratischen Planungsprozessen weltweit immer und ausnahmslos passiert: Es gibt Streit um den Standort. Streit, der Nachbarn entzweit, Streit, der den Baubeginn verzögert, Streit, der zermürbt.

Auf allen Seiten. Erik Eriksen hat sich mit allen angelegt und durch alle Instanzen. Wegen zehn Metern. Ein Jahr lang. Es ging um die Entfernung zwischen der Onsbjerger Kirche und dem neuen Fernwärmekraftwerk; lange bevor das Kraftwerk überhaupt gebaut wurde, beschäftigte den Rentner diese Frage. Exakt 290 Meter trennen die beiden Bauwerke. Zehn Meter zu wenig, sagt Erik Eriksen.

Er ist Mitglied des dänischen Naturfredningsforeningen, eines Vereins, der sich für den Erhalt von Kulturlandschaften und historischen Bauwerken, insbesondere alten Kirchen, einsetzt. Kirchen wie der von Onsbjerg. „In einem Umkreis von dreihundert Metern“, zitiert der alte Mann das Gesetz, „darf nicht höher als 8,5 Meter gebaut werden.“ Der Schornstein von Arne Kremmer Jensens Kraftwerk ist etwa zwanzig Meter hoch. Erik Eriksen und sein Naturfredningsforeningen haben Unterschriften gesammelt, Protestbriefe geschickt, Gutachter beauftragt, Einwände bei den Planungsbehörden erhoben, ein Jahr lang.

Ein Jahr, in dem ansonsten nichts passierte, nichts passieren durfte. Baustopp. Bis entschieden wurde, dass die Fernwärmeversorgung nicht an zehn Metern scheitern soll. Inzwischen ist auch Erik Eriksens Haus an das Fernwärmenetz angeschlossen. „Die Idee an sich habe ich schließlich auch immer unterstützt.“ Erik Eriksen klingt erschöpft. Seit 42 Jahren lebt er auf Samsø. Inselzahnarzt ist er gewesen, er hatte viele Patienten. Er ist jetzt 72 Jahre alt. Ein Alter, in dem man sich nicht mehr aus einer Laune heraus räumlich verändert. Erik Eriksen wohnt in der gleichen Straße wie Ketty Gerstrøm, sie in der Nummer 7, er in der 13. Er hat ein Schild an seinem Haus angebracht: Til salg, zu verkaufen. Was, wenn jetzt auch noch die Alten anfangen, die Insel zu verlassen?

Nachdenklich sitzt der Bürgermeister von Samsø im Sweatshirt in seinem Amtszimmer in der Inselhauptstadt Tranebjerg. 48 Jahre ist Carsten Bruun alt, und wie seine Vorgänger ist auch er Mitglied der Bauernpartei. Was, wenn die Alten …? Die Frage treibt ihn um, tags, nachts, ständig. Nicht so sehr wegen des bedauerlichen Einzelfalls mit dem Zahnarzt aus Onsbjerg. Das kann vorkommen. Die Frage ist grundsätzlicher: Was bloß soll aus der Insel werden? Abitur kann man auf Samsø längst nicht mehr machen, nach der zehnten Klasse müssen die Schülerinnen und Schüler ins Internat nach Jütland; die wenigsten kehren zurück. Der Tourismus boomt, sicher, der Titel „Regenerative Energieinsel“ lässt sich werbewirksam einsetzen, aber nun hat die Bezirksregierung gedroht, das Inselkrankenhaus – 22 Betten, siebzig Beschäftigte, dichtzumachen. Sparzwänge, fehlende Steuereinnahmen, das Übliche. Bis ins Krankenhaus nach Arhus würde es künftig mit Fähre und Bus zweieinhalb Stunden dauern. Sofern die Ostsee ruhig ist und die Fähre fahren kann. Eine Brücke zum Festland gibt es nicht. Wer möchte da bleiben?

„Sehen Sie“, sagt Carsten Bruun, „die erneuerbaren Energien sind ja eine feine Sache.“ In weniger als der Hälfte der vorgesehenen Zeit habe Samsø den Plan erfüllt. Schon heute, nach nur fünf Jahren, erzeugt die Insel dank Windrädern, Fernwärmekraftwerken und Solaranlagen mehr umweltfreundliche Energie, als sie selbst verbraucht. Aber was ist der Dank für das Ökoengagement, von dem schließlich auch die nationale CO2-Statistik profitiert? Das Krankenhaus vor dem Aus. Die staatlichen Fördermittel für Projektleitung und Energieberatung seit diesem Jahr gestrichen. Aage Johnsen und seine Kollegen müssen jetzt selbst sehen, wie sie sich finanzieren; Seminare, Besuchergruppen, internationale Schulungen, vieles ist denkbar. In Kopenhagen regieren seit einem Jahr die Rechtskonservativen.

Dessen ungeachtet, sagt Bürgermeister Bruun, haben vor wenigen Wochen auf Samsø die Arbeiten für den Offshorewindpark begonnen, als Kompensation für den Energieverbrauch durch den Verkehr; Plan ist Plan. Da halfen auch nicht die Warnungen der konservativen Gemeindevertreter. Die fanden das finanzielle Risiko zu hoch und wollten lieber kleiner bauen. Oder noch mehr Privatinvestoren finden. Aber die fanden sich nicht. Und so lasten die Kredite von fünf der zehn Windräder, die dieser Tage in den Meeresgrund gerammt werden, auf der Gemeinde – pro Stück 3,4 Millionen Euro. Carsten Bruun wischt sich über die Stirn.

Am Rande der Preisverleihung von Eurosolar am 30. Oktober in Kopenhagen gratulierten auch Vertreter der dänischen Nationalregierung Samsø zum energiepolitischen Erfolg. Carsten Bruun blieb an diesem Tag auf seiner Insel.

HEIKE HAARHOFF, 33, ist taz-Reporterin