Zum Bohren nach Norwegen

Immer mehr Hamburger Zahnärzte finden in Norwegen einen Job. Denn Norwegens öffentlichem Gesundheitswesen fehlt der ärztliche Nachwuchs. Bohren bis um vier, und danach an den See

von PEGGY WOLF

In dieser Zahnarztpraxis riecht es nicht nach Desinfektionsmitteln, sondern nach fruchtig-frischer Reinigung – irgendwie nach Gummibärchen. Seitdem die Hamburger Zahnärztin Maria Schültken (40) in der südnorwegischen Kommune Evje den Job von ihrem 74-jährigen Vorgänger übernommen hat, haben sich dort nicht nur die Putzgewohnheiten geändert, sondern auch die Behandlungsmethoden modernisiert. Und deswegen gehen jetzt wieder alle Schüler der 3000 Seelen-Gemeinde regelmäßig zum Zahnarzt.

Fünf Patienten hat Maria Schültken seit neun Uhr behandelt, drei erwartet sie noch nach der Mittagspause. Wenn ihr Dienst um 15 Uhr endet, fährt sie die vier Kilometer nach Hause mit dem Rad – durch einen Kiefernwald, vorbei an tiefblauen Seen, grünen Wiesen und schroffen Bergen. Seit einem Jahr arbeitet die 40-Jährige im öffentlichen Gesundheitswesen des Königreiches Norwegen. Sie war die erste Zahnärztin aus Hamburg, die ihre Chance nutzte. Denn in Norwegen sind Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger Mangelware und deshalb sehr begehrt. Vieles ist hier anders als Maria Schültken es aus Hamburg kennt: „Meine Patienten machen es mir sehr leicht – die wenigsten jammern“, erklärt die Ärztin. Und auch privat gibt es Unterschiede: „Hier wird zu Hause, im Freundes- oder Familienkreis gekocht – Essengehen lohnt nicht, zu teuer. Dafür sind auf dem Land die Mieten niedrig. Und vor meiner Tür habe ich einen großen Badesee.“

Mit der Sprache habe sie keine Probleme, dank eines Sprachkurses in Hamburg, den ihr die norwegische Arbeitsverwaltung AETAT (Arbeidsamt Oslo) vermittelt hatte – ein viertel Jahr lang, acht Stunden, fünf Tage die Woche. „Alles weitere habe ich hier gelernt“, sagt sie. Nach Deutschland zurück? „Daran denke ich im Augenblick noch nicht.“

Während in Deutschland die Vorsorge weitgehend auf Eigeninitiative beruht, werden in Norwegen die Patienten von staatlichen Stellen jährlich zu bestimmten Terminen bestellt und bei Bedarf kostenlos behandelt. Ob sie kommen, wird kontrolliert. Denn: „Vorbeugen ist besser als Heilen.“ In der Zahnmedizin hat dieses Prinzip dazu beigetragen, dass norwegische Kinder kaum Zahnprobleme haben.

Auch Yvonne Kiehn ist von Hamburg nach Norwegen gegangen. Seit einem halben Jahr ist sie Ärztin an der Zahnklinik des charmanten Küstenstädtchens Arendal. „Die Möglichkeiten in Hamburg als Zahnarzt zu arbeiten, sind eingeschränkt, denn jeder zugelassene Zahnarzt gibt die Praxis selbstverständlich seinen Kindern“, sagt die 28-Jährige. Die eigene Praxis zu gründen, sei zum einen schwer zu finanzieren, zum anderen wegen der großen Konkurrenz und den geltenden Zulassungsbeschränkungen fast unmöglich. „Ich habe gerade meine Assistenzzeit hinter mir und wollte schon immer ins Ausland – Erfahrungen sammeln. Hier behandele ich vormittags Kinder, während im Hintergrund Möwen schreien, und ab vier Uhr bin ich mit meinem Boot draußen.“ Im April nächsten Jahres werden weitere fünf Kollegen aus Hamburg folgen.

Norwegen hat etwa 4,4 Millionen Einwohner und ist in 19 sogenannte Fylke (Bezirke) eingeteilt. Auf die verteilen sich 435 Kommunen, von denen jede ein staatlich gefördertes Zahnarztzentrum hat. Die meisten davon sind jedoch seit Jahren nur stundenweise oder gar nicht besetzt – der qualifizierte Nachwuchs fehlt. Denn mit der Selbstständigkeit ist mehr Geld zu verdienen als im Öffentlichen Dienst. Eine eigene Praxis zu gründen, ist für Norweger mit entsprechender Qualifikation relativ einfach: Es gibt keine Zulassungsbeschränkungen, tragfähige Finanzierungskonzepte und wenig Bürokratie. Um das öffentliche Gesundheitswesen erhalten zu können, schuf die norwegische Arbeitsverwaltung AETAT vor zwei Jahren das Programm „Zahnärzte nach Norwegen“. Der deutsche Partner: die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung in Bonn begleitet die Bewerber. 55 deutsche Zahnärzte stopfen seither norwegische Zahnlücken – und der Bedarf ist noch längst nicht gedeckt.