Der Griff zum Wasserhahn

Die Woche der Verlängerung: Ein Interview mit dem Gourmetkoch Vincent Klink

taz: Als Marschall Richelieu 1756 im Hafen Mahón belagert wurde, verlangte es ihn nach Sauce. Kurzerhand quirlte er Öl, Essig und ein Eigelb in sehr viel Wasser und erhielt am Ende eine sämige Materie, die er „Mahónnaise“ taufte. Sie wird noch heute auf allerlei gekleckert. Der Kochwissenschaftler Harold McGee hat nun behauptet, mit nur einem Ei 24 Liter Mayonnaise erzeugt zu haben! Dieser extreme Verlängerungsfall steht symptomatisch für die okkulte Küchenpraxis, aus Wenigem mehr zu machen. Wie denkt der erfahrene Gastronom übers Verlängern?

Vincent Klink: In einem guten Lokal muss der Gast immer auch gut zahlen. Er soll zufrieden sein und wiederkommen; daher hat sich der gute Koch ständig gegen den genmäßig angelegten Trieb, den ständigen Wunsch nach Verlängerung zu verwahren. Ganz anders ist es, wenn die Verwandtschaft zu Besuch kommt, da ist alles erlaubt, auch der Griff zum Wasserhahn!

Bleibt der gute Geschmack beim Verlängern nicht notgedrungen auf der Strecke? Die „tagessuppe“ für die taz ist nicht gestreckt, das schmeckt man. Aber wie ist es sonst im Leben und in der Küche?

Mir haben Frauen berichtet, und deren Erkenntnis habe ich auch auf meine Süppchen übertragen: Lieber kurz und dick als lang und dünne! Dünn und obendrein noch kurz, das wäre allerdings katastrophal. Niemand wird da widersprechen. Freilich gibt es auch Leute, die sind nichts Besseres als lang und dünn gewohnt. Wenn sie dabei glücklich sind, ist jede Verlängerung und Verdünnung gerechtfertigt. Wichtig ist, dass der Name der Sauce oder des Gerichts den Tatsachen entspricht. Serviert man eine „Doppelte Kraftbrühe“ beziehungsweise „Consommée double“, dann ist ja wenigstens die Bezeichnung kräftig. Es gibt viele Leute, die wollen genau das – einen Namen, der was hermacht, egal was hinterherkommt. Beim ersten Löffel soll es ganz dicke sein, dann folgen nur noch Glutamat und sonstige Geschmacksverstärker. Vorwiegend kann man das Phänomen „dick und dünn“ bei einer gewissen Zeitung erfahren. Oben ein Riesentitel, und dann kein Text mehr. Das ganze Blatt besteht aus Titeln. Da ist die schlechteste Speisekarte noch besser.

Nun braucht verlängern nicht bloß verhunzen zu heißen – der gute deutsche Eintopf ist wohl ein Fall, bei dem die Prolongation auch zum Guten ausschlagen kann, weil nicht nur Füllmasse, sondern auch gute Stammmaterie zugesetzt wird: Lauchprügel, Steckrüben, Stangensellerie oder Bohnen. Wie lange kann man das treiben ohne Gesundheitsrisiken?

Der Mensch hält Gott sei Dank ziemlich viel aus, ist auch sehr anpassungsfähig. Ich kenne einen Fall, da eilte ein Großvater seiner allein erziehenden Tochter zu Hilfe und produzierte Frikadellen gleich für den ganzen Monat. Sie schmeckten klasse. Das Übriggebliebene wurde eingefroren, aufgetaut, mit Semmelbröseln und Milch gestreckt, mit Tütensauce aufgejazzt, etwas davon gegessen, dann wieder eingefroren, aufgetaut, mit Semmelbröseln und Milch gestreckt, mit Tütensauce aufgejazzt und so weiter. Zwischendrin dachte Opa vor lauter Freude über die Verlängerung und Unsterblichkeit seiner Frikadellen, der Frühling der Jugend stünde wieder vor der Tür. Es war aber nur ein Zwischenhoch. Der ganze Clan landete mit Haarausfall im Krankenhaus, und Opa ging nicht in die Verlängerung, sondern machte den Abflug.

Ähnlich gefährlich ist auch die letzte Form des Prolongierens, bei dem sich nicht die Speise, sondern der Aufenthalt des Gastes in die Länge zieht: Zu trockenen Bratenscheiben etwa werden in ländlichen Gegenden Schwabens gern Berge von Spätzle nebst Litern von brauner Sauce gereicht. Damit diese Speise nun „mehrgängig“ wird, „geht“ die Wirtin mehrmals herum, um Saucen- und Spätzlepegel nachzujustieren. Da kann „Verlängerung“ zur wirklichen Lebensbedrohung werden, vor allem wenn einem das „Nicht-mehr-Können“ übel genommen wird. Ist der Nachschlag eher eine Verlängerung oder eine Tötung des Genusses?

Generell kann der Nachschlag als die Lieblingsspeise der Deutschen bezeichnet werden. Die Nebenwirkungen sind vielfältig. Auf alle Fälle wird man davon dumpf und träge und kann am Schluss kaum mehr die Bild-Zeitung buchstabieren. Also, wenn das kein Krankheitsbild ist! Keinen hat’s jedoch bisher zerrissen. Lebensbedrohung sehe ich da nicht, denn es gilt ja das schöne schwäbische Sprichwort: Mit der Blödheit, da isch’s so: Selber merkt man nix davo!

Herr Klink, wir danken Ihnen für das verlängerte Gespräch. INTERVIEW: TOM WOLF