: Flexibilisierung gefordert
Frankreich verabschiedet sich allmählich von seiner Assimilationspolitik. Der neue Weg muss Anerkennung der Vielfalt heißen. Dazu gehört auch eine aktive Antidiskriminierungspolitik
von PATRICK SIMON
Seit mehr als 20 Jahren sucht Frankreich unter schmerzhaften Zuckungen nach einer Neudefinition seines Integrationsmodells. Eine Krise, so heißt es oft, die den einwanderungsfeindlichen Diskurs nährt und der populistischen und xenophoben Rechtsextremen seit 1984 dauerhafte Wahlerfolge beschert.
Es mag erstaunen, wie widerspenstig sich dieses alte Einwanderungsland, Heimat der Menschenrechte und des republikanischen Universalismus, bei der Integration jener Einwanderer aus allen Teilen der Welt gebärdet, die gerade mal 7,4 Prozent der Bevölkerung ausmachen – ein ähnlich hoher Anteil wie schon 1931. Woher rühren die Ängste und Verkrampfungen in einem Land, das es seit Mitte des 19. Jahrhunderts gewohnt ist, mit der „Ausländerfrage“ umzugehen? In dem nach Schätzungen nahezu ein Viertel der Bevölkerung in erster oder zweiter Generation einen Migrationshintergrund hat und dem es gelang, Millionen von Deutschen, Belgiern, Schweizern, Polen, Armeniern, Italienern und Spaniern nachgerade aufzusaugen und unsichtbar werden zu lassen.
Die Beziehungen zwischen Frankreich und „seinen Immigranten“ sind seit je zweischneidig, oft konfliktträchtig, immer widersprüchlich. Da ist zunächst das Verhältnis zur Geschichte: Nachdem lange so getan worden war, als habe die Einwanderung keine Rolle bei der Konstitution der französischen Gesellschaft gespielt, ist ihre Bedeutung heute anerkannt.
Obschon die Geschichte der Einwanderung mehr als ein Jahrhundert alt ist, setzte erst zum Ende der 70er-Jahre eine Diskussion ein über die Neuordnung der Strukturen und das, was ich als den nationalen Mythos bezeichnen würde, die der Vielfalt der kulturellen Praktiken und Vermächtnisse Rechnung trägt.
Dann die Einwanderungspolitik: Alle Regierungen, die linken wie die rechten, beriefen sich auf denselben Grundsatz, der seither das Konzept der Integration „à la française“ begründet: die Zuwanderungsströme zu lenken (im Sinne von begrenzen), um die bereits im Lande lebenden Einwanderer abzusichern (im Sinne von integrieren).
Schließlich hat die französische Einwanderungspolitik von jeher versucht, arbeitsmarkt- und bevölkerungspolitische Interessen miteinander in Einklang zu bringen. So werden einerseits Einwanderungsgesetze verschärft, um die Wanderungsbewegungen stärker unter Kontrolle zu bringen, auch wenn damit tausende von Ausländern in die Illegalität und das soziale Abseits gedrängt werden.
Andererseits ermöglicht es das Staatsbürgerschaftsrecht ungebrochen, aus den in Frankreich von Ausländerinnen geborenen Kindern Franzosen zu machen; im Jahr 2000 gab es mit 150.000 Einbürgerungen so viele wie nie zuvor. Schon immer lautete das Ziel, neue Staatsbürger zu schaffen und dabei gleichzeitig die Vorrechte der nationalen Gesellschaft zu erhalten, deren Interessen es gegenüber Partikularinteressen durchzusetzen gilt.
Paradoxerweise fiel die Entscheidung, das Land vor neuer Einwanderung stärker zu verschließen, mit jener Anerkennung des geschichtlichen Beitrags der Einwanderung zusammen. Frankreich bekannte sich damit zum traditionellen Einwanderungsland und machte gleichzeitig deutlich, dass es wenig geneigt ist, dies auch in Zukunft zu bleiben.
Dessen ungeachtet wandern jedes Jahr 100.000 bis 150.000 Migranten regulär nach Frankreich ein, und es ist davon auszugehen, dass diese Zahlen weiter steigen werden.
Ein kurzer Überblick über die Einwanderungslandschaft zu Beginn des neuen Jahrtausends: 1999 zählte Frankreich 4,3 Millionen Immigranten (mit anderer Staatsangehörigkeit im Ausland geborene Personen), von denen 36 Prozent im Laufe der Zeit Franzosen geworden sind.
An den größten Communities lässt sich die Geschichte der verschiedenen Einwanderungswellen seit Beginn des 20. Jahrhunderts ablesen. So finden sich die Spuren der polnischen Einwanderung, die besonders die Zwischenkriegszeit prägte, und ein hoher Anteil an Italienern und Spaniern (9 bzw. 7 Prozent aller Immigranten im Jahr 1999).
Am stärksten sind die in den 60er-Jahren eingewanderten Gruppen repräsentiert: Portugiesen und Algerier (je 13 Prozent) sowie Marokkaner (12 Prozent). Die erst in jüngster Zeit Immigrierten nehmen statistisch nur einen vergleichsweise geringen Raum ein. Ihre Ankunft fiel in die Zeit verstärkter Einwanderungskontrolle seit 1974 und erneuter Lockerung seit Anfang der 80er-Jahre.
Die Zuwanderung aus Südostasien und der Türkei (jeweils 4 Prozent) wird zwar stärker, dürfte jedoch aus heutiger Sicht nicht das Ausmaß früherer Migrationsströme erreichen. Die Zahl der Einwanderungen aus Ländern südlich der Sahara ist hingegen seit 1990 um 43 Prozent gestiegen. Diese Gruppe hat heute einen Anteil von 9 Prozent an der eingewanderten Bevölkerung.
Während wir es mit einer immer größeren Vielfalt an Herkunftsländern zu tun haben, gleichen sich die soziodemografischen Merkmale zunehmend an: Familienzusammenführung, Feminisierung und die Verschiebung der Altersstruktur nach oben prägen die Einwanderung heute und lassen das Bild des „Gastarbeiters“ zugunsten eines breiteren Spektrums an Lebensentwürfen verschwinden.
Seit Mitte der 70er-Jahre verlassen die Einwanderer die ihnen zugedachten Nischen (Fabriken, Arbeiterwohnheime, möblierte Zimmer, sozialer Wohnungsbau) und beginnen die französische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu durchdringen. Doch unter dieser neuen Pluralität verbergen sich Widerstände, die erst allmählich sichtbar werden und neue, bislang unbekannte Hürden errichten. Die gesellschaftlichen Aufstiegschancen bleiben extrem begrenzt, die Arbeitslosigkeit betrifft Immigranten doppelt so stark wie die übrige Bevölkerung und dreimal mehr die Menschen aus dem Maghreb, der Türkei und Schwarzafrika.
Die räumliche Segregation hat neue Konzentrationen in den wenig attraktiven Stadtteilen der Peripherien hervorgebracht, die der öffentliche Diskurs zu „Ghettos“ abqualifiziert. Auch gibt es bei Kindern von Immigranten nach wie vor gebrochenere Schullaufbahnen, und selbst wenn sie höhere Abschlüsse erlangen, müssen sie mit vielfältigen Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt rechnen.
Ausgrenzung und sozialer Abstieg kennzeichnen die Erfahrungen vieler junger Immigranten der „zweiten Generation“, die die Versprechungen des französischen Integrationsmodells auf eine harte Probe stellen. Die Herkunft entscheidet immer stärker über die gesellschaftliche Stellung: Einwanderer aus Südeuropa treffen nicht auf dieselben Hürden wie Maghrebiner, Türken und Schwarzafrikaner. Ganz allmählich entsteht so eine Kluft entlang der Kategorien Ethnie und Rasse: Vorzeichen der Herausbildung von Minderheiten.
Seit den Anfängen der Einwanderung verfolgt das Gespenst der „Ausländerfrage“ die Bildung einer nationalen Identität. Es taucht regelmäßig dann wieder auf, wenn die Anwesenheit von Immigranten die behauptete Homogenität der Gesellschaft in Frage stellt.
Angesichts der Risiken eines Auseinanderbrechens der nationalen Einheit hat das französische Modell lange Zeit assimilatorische Ziele verfolgt. Es ging darum, die Einwanderer, und insbesondere ihre Kinder, in die kollektive Norm einzufügen, indem ihre spezifischen Ausdrucksformen – Sprache, Religion, kulturelle und soziale Praktiken – vermindert wurden, und sie in erster Linie gesellschaftlich unauffällig zu machen. Dieses Modell geriet stark unter Beschuss, als sich abzeichnete, dass die Einwanderer nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden und eine Flexibilisierung der französischen Gesellschaft gefordert war.
Der Übergang von einer harten Assimilations- zu einer ausgehandelten Integrationspolitik vollzog sich während der 80er-Jahre. 1989 formuliert der Hohe Integrationsrat die Elemente der neuen französischen Integrationsdoktrin und wägt dabei vorsichtig ab zwischen den Rechten und den Pflichten der „Frauen und Männer, die dauerhaft auf unserem Boden leben werden“. Er fordert auf der einen Seite die Anerkennung der republikanischen Grundwerte durch die Immigranten ein und auf der anderen Seite den Umbau der französischen Gesellschaft, der es erlauben soll, „Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen“.
Die Grundsätze der neuen Integrationspolitik lauten: Integration ist ein individueller Prozess und darf sich nicht innerhalb struktureller Gemeinschaften vollziehen, die durch ihre Institutionalisierung das Nationalgefüge gefährden; der Zugang zu den Staatsbürgerrechten, mit anderen Worten der Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit steht am Ende des Integrationsprozesses und nicht an seinem Anfang; Integration ist an das Prinzip der Gleichheit gekoppelt, dessen gesellschaftliche Umsetzung sie vorantreiben soll.
In der Praxis bedeutet dies eine erleichterte Eingewöhnung der Neueinwanderer etwa durch Alphabetisierungskurse und Sozialberatung. Je deutlicher jedoch das Ausmaß an ethnischen oder rassistischen Diskriminierungen in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zutage tritt, desto fragwürdiger werden diese traditionellen Formen der Intervention.
Es geht nicht mehr nur darum, kulturelle oder soziale Hürden zu überwinden, was den eigentlichen Kern von Integrationspolitik ausmacht, sondern die Gleichheit der Rechte zwischen Individuen wiederherzustellen, auf die sie ungeachtet ihrer objektiven Differenz denselben Anspruch haben. Das Problem liegt nicht mehr in dem vermuteten Versagen der Einwanderer (denen es nicht gelinge, sich zu integrieren, und denen man helfen müsse), sondern in der Unfähigkeit der französischen Gesellschaft, allen dieselben Rechte zuzuerkennen und zugänglich zu machen.
Seit 1998 haben mehrere offizielle Berichte und Stellungnahmen höchster staatlicher Stellen auf die Notwendigkeit verstärkter Aktivitäten in der Diskriminierungsbekämpfung hingewiesen. Ein ganzes Instrumentarium ist seither zu diesem Zwecke geschaffen worden; unter anderem ein gebührenfreier Telefonnotruf, „GELD-114“ (Groupe d’Etude et de Lutte contre les Discriminations), unter dem Einzelpersonen Beschwerden melden können, bevor sie dann an die CODACs (Commissions d’Accès à la Citoyenneté), die in jedem Departement existieren, weitergeleitet werden. Diese übernehmen die Bearbeitung und entscheiden über die Einleitung möglicher Rechtsschritte.
Zwischen Mai 2000 und Dezember 2001 hat GELD-114 zehntausend Meldungen an die Codacs weitergeleitet, was einen Eindruck vom Ausmaß der Diskriminierungen vermitteln mag.
Im Übrigen verabschiedete das Parlament im November 2001 ein „Gesetz über die Bekämpfung von Diskriminierungen“, und es wurden wichtige rechtliche Maßnahmen getroffen, um die Möglichkeiten der Diskriminierungsbekämpfung zu effektivieren.
Der Übergang von der Integrationspolitik zu einer Antidiskriminierungspolitik fällt zusammen mit europäischen Aktivitäten in dieser Frage und entsprechenden Richtlinien, die die Europäische Union (EU) im Juni 2000 erlassen hat. Auch wenn deren Umsetzung in der französischen Praxis zahlreiche Probleme mit sich bringt, ist unverkennbar, dass der Geist der EU-Richtlinien die französische Tradition der Intervention in Frage gestellt und die Neuordnung des Integrationsmodells beschleunigt hat.
Die neue Politik stößt sich jedoch an der Schwierigkeit, die von Diskriminierung betroffenen Bevölkerungsgruppen zu definieren. Ausländer sind juristisch durch ihre Staatsangehörigkeit zu unterscheiden, Franzosen ausländischer Herkunft oder Migranten der zweiten und dritten Generation existieren jedoch nicht als statistische Kategorie, was es in ihrem Fall schwierig macht, indirekte Diskriminierungen nachzuweisen.
Eine weitere Veränderung der französischen Gesellschaft würde voraussetzen, dass ein wirklicher Schlussstrich unter das Integrationsmodell gezogen und ein neues politisches Konzept entwickelt würde. Ein Konzept, das auf der Erkenntnis beruht, dass die Anerkennung der Vielfalt das beste Mittel darstellt, um zu einer Gleichheit jenseits aller Differenzen zu gelangen.
Übersetzung: Veronika Kabis
Patrick Simon ist Migrationsforscher am Institut National d’Etudes Démographiques (INED) in Paris
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen